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Chemie

Der Mann, der die Chemiestadt Basel sicherer machte

Im Mai 2015 verstarb Anton Schaerli, der ehemalige «Mr. Ciba-Geigy».

Immer mal wieder brachte der Ostwind fischigen Gestank von Roches Vitaminfabrik über die Stadt. Lag dagegen Marzipan-Duft in der Luft, kam’s meist von der Ciba oder der Sandoz. Und bisweilen waren im St. Johann-Quartier alle Autos blau eingefärbt wegen einer Panne in einer der Farbenfabriken. Und ja, manchmal knallte es richtig, in der ganzen Region hörbar. Dann wartete die ganze Familie bang auf Vaters beruhigenden Telefonanruf, es sei «nichts passiert». «Nichts» bedeutete, dass keine Menschen zu Schaden gekommen seien. Dies war zum Glück meist der Fall, aber eben nicht immer.

Die Rede ist von der Chemiestadt Basel, wie wir sie in den 1950er und 60er Jahren erlebt haben. Die Branche war nach dem Zweiten Weltkrieg in Begriff, sich vom Gewerbe zur Grossindustrie zu mausern. Da lief vieles noch nicht rund. Zu dieser Zeit heuerte ein junger Chemiker bei Ciba an. Streng genommen war Anton Schaerli gar kein richtiger Chemiker, denn er besass keinen Doktortitel, sondern hatte sein Diplom «bloss» beim Technikum Burgdorf erworben. Was aus heutiger Sicht kein Thema wäre, war damals matchentscheidend. Damals, als die WCs noch mit «Chemiker» und «Laboranten» angeschrieben waren …

Zu lange auf dem Rücken geflogen

Anton Schaerli focht das alles wenig an, von Standesregeln und –dünkel liess er sich nicht beeindrucken. Schon als Student wie auch im Militär galt er als «verrückter Siech», der – zu allen möglichen und unmöglichen Streichen aufgelegt – bestehende Regeln ausreizte. Und so etwa beinahe aus der Pilotenschule des Überwachungsgeschwaders rausgeschmissen wurde, weil er einmal zehn Minuten auf dem Rücken flog, statt bloss die eine, wie im Reglement vorgeschrieben. 

Mit Anton Schaerli hatte sich die Ciba im Jahr 1946 somit einen eher unkonventionellen Mitarbeiter angelacht. Zunächst wurden ihm Entwicklung und Produktion eines gewissen Hilfsstoffes für die Textilindustrie übertragen. «Wir waren die besten», sagte Schaerli einmal stolz. Sie waren aber auch doppelt so teuer wie die Konkurrenz, Ciba gab daher dieses Projekt bereits 1950 wieder auf.

Königreiche gestürzt

Damit wäre eigentlich auch Schaerlis Karriere bei der Ciba beendet gewesen. Aber inzwischen war der einsatzfreudige junge Mann auch an höherer Stelle aufgefallen. Er wurde zum Assistenten des Chefs in der Farbstoffherstellung ernannt. Schaerli war nun verantwortlich für die Einführung und Umsetzung von Neuerungen und hatte naturgemäss mit vielen Problemen zu kämpfen. Über das Dazugelernte legte er (neu für Ciba) eine systematische Dokumentation an, und konnte seine Vorgesetzten 1952 von der Notwendigkeit überzeugen, eine Erfahrungsaustausch-Konferenz (Erfa) zu schaffen, in der die Betriebsleiter informell über Erkenntnisse, Sorgen und Sicherheitsfragen diskutieren konnten. Dies kam einer Revolution gleich, denn damals gebärdeten sich die Betriebsleiter oft noch wie kleine Könige, auch firmeninterne Besuche waren nicht gerne gesehen, ja sogar vertraglich verboten. Aus Angst, es könnten Betriebsgeheimnisse verraten werden. 

Damit war jetzt Schluss. Als Erfa-Sekretär war Anton Schaerli berechtigt, seine Nase in alle Produktionslokale zu stecken. Bald wusste er am besten, wer, was und wie bei der Ciba machte. So wurde Schaerli allmählich zum angesehenen Sicherheits-Fachmann, dem Arbeiter und Meister gleichermassen vertrauten. Sicherheitskonzepte wurden somit von der Basis her erarbeitet und funktionierten daher meist. «Informelle Organisation» nannte Schaerli dies, «darauf ist eine grosse Firma besonders angewiesen».

«Informelle Organisation» war Schaerlis Leitfaden denn auch bei allem, was er anpackte. Er führte mit neu Eingetretenen Sicherheitskurse durch, brachte die Feuerwehr auf Vordermann und führte das Vorschlagswesen für Arbeiter ein. Als es dann 1960 darum ging, bei Ciba eine Arbeitsplatz-Bewertung durchzuführen (aufgrund derer dann der Leistungslohn eingeführt wurde), war es auch wieder Anton Schaerli, der die heikle Aufgabe meisterte. «Mein bedeutendster persönlicher Beitrag zu Veränderungen in unserem Chemie-Grossunternehmen», schreibt Schaerli dazu in seinen Memoiren.

Alex Krauer auf Pikett

Veränderungen hat Anton Schaerli aber auch ausserhalb seiner Firma bewirkt. Etwa indem er sein Wissen in die Expertenkommission für Sicherheit in der chemischen Industrie der Schweiz (ESCIS) einbrachte, indem er mithalf, die Berufslehre zum Chemikanten zu begründen und zwischen den Basler Chemiefirmen den freien Informationsaustausch in Sicherheitsfragen etablierte. Bei Ciba richtete er den freiwilligen Nacht-Pikettdienst ein, der bis in die 90er Jahre von etwa 400 Kaderleuten (darunter auch Konzernchef Alex Krauer) im Turnus geleistet wurde: Damit im Falle eines Falles auch nachts immer ein Verantwortungsträger vor Ort war.

Doch trotz aller Anstrengungen waren auch herbe Rückschläge zu verkraften: Am 23. Dezember 1969 kostete eine Explosion im Azo-Farbenbetrieb drei Menschenleben, und zwei Wochen später verursachte eine gewaltige Raumexplosion (zum Glück) bloss Sachschaden. Direkte Folge dieser beiden Unfälle war, dass nun eine Wissenschaftliche Zentralstelle für die Sicherheit chemischer Prozesse geschaffen wurde und somit die Sicherheit ein Thema für die Forschung wurde. Mit Kaspar Eigenmann, später Schaerlis Nachfolger als Sicherheitschef, konnte ein hochqualifizierter Chemiker für den Aufbau dieser Zentralstelle betraut werden. 

Fusion ein Gewinn für Sicherheit

Die Fusion mit Geigy anno 1970 erlebte Schaerli als grossen Gewinn für die Chemie-Sicherheit. In den Fusionsgesprächen kam nie Zweifel auf, dass der Ciba-Sicherheitsdienst, also Anton Schaerli, das Sagen haben werde in der neuen Firma. Er organisierte in der Folge firmenübergreifende Risiko-Seminare, liess in einer stillgelegten Gipsgrube bei Zeglingen eine Teststelle einrichten, um die Ursache und Wirkung von Staubexplosionen zu erforschen. Nach einem Brand bei Sandoz wurde das schweizweit aktive Konsultativ-Gremium «Vorbeugender Brandschutz» gegründet, auch wieder unter Schaerlis Vorsitz. Und der Dioxin-Unfall von Seveso führte dazu, dass der Zentrale Sicherheitsdienst bei Ciba-Geigy nun auch noch um das Fach Toxikologie erweitert wurde. 

Greenpeace auf dem Kamin

1981 dann der Höhepunkt seiner Karriere: Anton Schaerli wurde zum Werkleiter der Ciba-Geigy ernannt. Damit kam von Energiezentrale bis zu Werkstätten, Umweltschutz und Fabrikarzt alles unter seine Fittiche, das die Firma in Basel am Laufen hielt. Für Arbeiterschaft, Behörden und Nachbarschaft war er nun der verständnisvolle Ansprechpartner, wenn es irgendwelche Probleme gab oder es solche zu vermeiden galt. Kurz, Anton Schaerli wurde zum «Mr. Ciba-Geigy» schlechthin. Unvergessen, wie er es dank seines Ansehens bei Behörden und Bevölkerung zustande brachte, dass die Dioxin-Fässer aus Seveso im firmeneigenen Sondermüllofen unschädlich gemacht werden konnten. Unvergessen auch seine Reaktion, als Greenpeace am 20. Dezember 1986 den Hochkamin besetzte. Schaerli liess die beiden Aktivisten, eine Lehrerin und einen Förster, nicht etwa mit Gewalt herunter holen, sondern sandte ihnen Kaffee und Kuchen hinauf. Und anderntags verabschiedete er sich von der Lehrerin gar mit drei roten Rosen. Sein Verhalten wurde vielerorts in der Firma mit Stirnrunzeln quittiert, stand aber beispielhaft für Schaerlis Grundhaltung, alle Menschen ernst zu nehmen und auch dem politischen Gegner auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. 

Segeln statt fliegen

Auch die Pensionierung 1988 brachte zunächst nicht viel Ruhe in Anton Schaerlis Leben. Trotz gesundheitlicher Probleme half er im Auftrag von Alex Krauer noch drei Jahre lang, Anwohnern, Politikern und Behörden den Bau des neuen Sondermüllofens in Kleinhüningen schmackhaft zu machen. Daneben nahm er sich jetzt endlich Zeit für Törns auf seinem Segelschiff in der Bretagne (das Fliegen hatte er schon lange aufgegeben). Und blieb auch auf hoher See dem «Prinzip Schaerli» treu: «Ein guter Kapitän, der nichts Tollkühnes riskiert, Schiff und Mannschaft sicher in den Hafen bringen will, und ein ehrlicher noch dazu, der ungefragt erklärt, dass kaum eine Firma eine blütenreine Weste trage, dass die seine aber, Ciba-Geigy, alles tue, die ihre so weiss wie möglich zu halten», hatte die NZZ Anton Schaerli zu dessen 40. Dienstjubiläum ins Buch geschrieben. Nun, vor Jahresfrist ist Kapitän Schaerli zu seiner letzten Fahrt angetreten, wie man in Seglerkreisen so sagt…

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