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Gesundheit/Ernährung

Vorsicht, das Baby trinkt mit

Drei Viertel der untersuchten Muttermilch-Proben enthalten Sonnenschutz-Filter

Die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung ist durch die allgegenwärtigen hormonaktiven Chemikalien nicht unmittelbar gefährdet. Hingegen könnten Rückstände von UV-Filtern in der Muttermilch künftig ein Risiko darstellen. Dies ist dem Schlussbericht des Nationalen Forschungsprogramms NFP 50 zu entnehmen.

Sie sind allgegenwärtig und sowohl zu Hause als auch draussen in freier Natur anzutreffen: Chemikalien, die zwar im herkömmlichen Sinn ungiftig sind, jedoch im Verdacht stehen, noch in kleinsten Konzentrationen langfristig das menschliche Hormonsystem beeinflussen zu können. Solche so genannte hormonaktive Substanzen entstehen einerseits in der freien Natur und werden auch vom Menschen ausgeschieden. Sie kommen aber vor allem in allen Bereichen der industriellen Fertigungsprozesse zum Einsatz, als Weichmacher in Kunststoffen, als Brandschutzmittel in Textilien und eben auch in der Kosmetikindustrie als Filter gegen Ultraviolett-Strahlen.

Während sechs Jahren wurden im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms NFP 50 insgesamt 31 Studien in Auftrag gegeben, die ein wenig Licht bringen sollten in das unheimliche Wirken hormonaktiver Substanzen im Kreislauf der Natur. Das Budget war auf insgesamt 15 Millionen Franken veranschlagt. Gestern Donnerstag hat der Präsident der Leitungsgruppe, der Zürcher Toxikologe Prof. Felix Althaus, in Bern vor den Medien eine erste Bilanz gezogen. Eine Bilanz, die erst vorläufig sein kann, denn «in diesen Nischenbereich muss noch viel Forschung – und Geld – investiert werden», sagt Felix Althaus. Immerhin ist schon auf organisatorischer Ebene Eindrückliches geleistet worden. Forscher-Netzwerke über die Landesgrenzen hinaus wurden geknüpft, neue Professuren wurden geschaffen und 132 junge Forschende gefördert.

Materiell hat das NFP50 wie zu erwarten ebenso viele Fragen beantwortet wie neue aufgeworfen. Nicht beantwortet ist die Frage, weshalb die Fertilität bei den bis jetzt 800 getesteten Rekruten offenbar – wie in der übrigen Industrieländern auch – zu wünschen übrig lässt (die baz berichtete). Die Untersuchungen darüber werden weiter geführt. Einigermassen klar ist jetzt dafür laut dem Berner Zoologieprofessor Helmut Segner, dass die beobachteten Gonaden-Missbildungen bei Thunersee-Felchen weder von versenkten Munitionsresten noch anderen hormonaktiven Substanzen verursacht werden. Auch der Fischbestand in den Fliessgewässern lebt, ausgenommen in der Nähe von Abwasserreinigungsanlagen, von Hormonsubstanzen ungestört. Und im Schweizer Trinkwasser sind sodann keine gesundheitsgefährdenden Konzentrationen hormonaktiver Substanzen zu entdecken.

Verunsichern könnte allerdings, was Margret Schlumpf und Walter Lichtensteiger von der Universität Zürich in der Muttermilch von insgesamt 54 Frauen gefunden haben. Mit der Muttermilch werden die im Fettgewebe angereicherten Umweltgifte DDT oder Dioxine ausgeschieden, das ist seit langen bekannt. Daneben wurden jetzt aber in über 75 Prozent der Proben auch noch Spuren von UV-Filtern entdeckt, und zwar teilweise in Konzentrationen, die bloss um einen Faktor 11 unter der Menge lagen, die im Tierversuch zu Funktionsstörungen führen. Üblich sei bei solchen Vergleichen eine Sicherheitsmarge von einem Faktor 100, schreiben die Forscher. Ebenfalls als Risikofaktor für Babys könnten sich die allgegenwärtigen Flammschutzmittel auf Brom-Basis herausstellen, denn Kleinkinder krabbeln gerne auf Teppichböden umher, und die sind gegen Brennbarkeit imprägniert. Die höchsten Konzentrationen an solchen bromhaltigen Flammschutzmitteln wurden übrigens im Inneren von Passagierflugzeugen gemessen.

Doch was ist zu tun? Überstürztes Dreinfahren, ein Verbot der verdächtigen Substanzen, kann es nicht bringen, war sich die in Bern versammelte Expertenrunde einig. Denn immer gelte es Risiko und Nutzen gegeneinander abzuwägen. «Brände und ihre Folgen sind weit gefährlicher als die gegenwärtig bekannten gesundheitlichen Risiken von Flammschutzmitteln», mahnte etwa der Vertreter des Bundesamtes für Gesundheit BAG, Steffen Wengert vor einem übereilten Verbot von bromhaltigen Flammschutzmitteln. Ebenfalls hält das BAG an seiner Empfehlung an die Mütter fest, ihre Babys zu stillen, «denn im Grunde enthält Muttermilch vor allem viele Substanzen, die das Immunsystem des Säuglings stärken», so Wengert. Dem stimmen auch Margret Schlumpf und Walter Lichtensteiger zu. Sie empfehlen den Frauen daher, während Schwangerschaft und Still-Zeit auf den Gebrauch von UV-Filter haltigen Kosmetika zu verzichten und sich etwa durch Kleidung vor der Sonne zu schützen.

Wie es etwa weiter gehen könnte, skizzierte Bruno Oberle, Direktor des Bundesamtes für Umwelt (BAFU). Zwar bestehe kein Grund zum Alarm, doch zeigten die Resultate des NFP50 Handlungsbedarf in verschiedenen Bereichen. So müsse künftig die hormonaktive Wirkung in die Beurteilung von Chemikalien mit einbezogen werden und deren Einsatz wenn nötig in Abstimmung etwa mit der EU gestoppt werden, «sofern Ersatzstoffe mit nachweislich niedrigerem Risikopotential verfügbar sind». Massnahmen seien auch im Bereich Abwasserwirtschaft notwendig, etwa die Erprobung neuer Klärtechniken, mit denen die Belastung durch natürliche und künstliche Mikro-Verunreinigungen verringert werden können. Sämtliche Massnahmen und Empfehlungen sollen weiter wie bis jetzt in so genannten Konsens-Konferenzen gemeinsam von Wissenschaftlern, Industrievertretern und Behörden erarbeitet werden. «Sonst kommts wie in anderen Ländern zu einem Seilziehen zwischen den verschiedenen Interessenvertretern, und das würde gar nichts bringen», mahnte Felix Althaus.

Box: Der Computer als Versuchstier

Seit ein paar Woche ist es in Betrieb, das virtuelle Toxikologie-Labor, das von Angelo Vedani und seiner Forschungsgruppe an der Universität Basel entwickelt wurde. Im «VirtualToxLab» können vorerst Forschende aus Universitäten, Spitälern aber auch Umweltorganisationen und Behörden am Computer testen, wie sich die Substanz, an der die gerade arbeiten, höchstwahrscheinlich verhalten wird im menschlichen Körper. Dazu haben Vedani und seine Crew im Moment elf wichtige Rezeptoren – darunter diejenige für Sexualhormone – virtuell und mehrdimensional modelliert. Wer nun wissen will, ob eine bestimmte chemische Verbindung beispielsweise hormonelle Störungen verursachen könnte, sendet eine dreidimensionale Darstellung des Moleküls via Internet ins VirtualToxLab. Acht bis zehn Rechenstunden später sollte das Resultat vorliegen und online analysiert werden können.

Ganz gratis ist der Dienst nicht, zwecks Kostendeckung wird eine kleine Benützergebühr erhoben. «Man muss bei uns eine Lizenz beantragen und erhält danach die nötige Software», sagt Angelo Vedani im Gespräch mit der baz. «Wir wollen wissen, mit wem wirs zu tun haben» – unter anderem auch, um Missbräuche zu verhindern.

Viel Arbeit könnte auf das VirtualToxLab zukommen, wenn in den nächsten Jahren gemäss EU-Beschluss rund 30 000 Chemikalien erneut auf ihre Giftigkeit untersucht werden müssen. Vedani und sein Team schätzen, dass diese Aufgabe in 60 bis 70 Prozent der Fälle von ihrem virtuellen Labor gelöst werden kann. Damit könnte die Zahl der ansonsten unvermeidlichen Tierversuche erheblich gesenkt werden.

Besuch im virtuellen Labor: http://www.biograf.ch

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