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Physik

Genauer ticken als die Erde

Naturkonstanten werden zusehends zum Mass aller Dinge

Der «Ur-Meter» von Sèvres bei Paris hat seit 1960 ausgedient, die Sekunde ist auch nicht mehr, was sie einmal war, und jetzt geht es auch noch dem Kilogramm an den Kragen: Seit 50 Jahren arbeiten Metrologen daran, die Masseinheiten neu über Naturkonstanten zu definieren. Und sind dabei schon weit vorangekommen. Unser Planet sei ein unzuverlässiger Kumpan, wenn es darum geht, an ihm Mass zu nehmen, Masseinheiten an irdischen Grössen auszurichten. Denn Masse, Umfang und Rotationsgeschwindigkeit der Erde seien nur scheinbar konstant, hatte der schottische Physiker James Clerk Maxwell schon 1890 gemahnt. «Die Erde kann sich abkühlen und zusammenziehen, Meteoriteneinschlag könnte die Masse erhöhen, die Rotationsgeschwindigkeit kann schwanken.» Daher empfahl Maxwell schon 1890, die Einheiten für Zeit, Länge und Masse an Phänomen im atomaren Bereich zu orientieren.

Gerade dies geschah in den vergangenen Jahrzehnten und wird weiterhin versucht. Das Wissenschaftsmagazin «Science» berichtete kürzlich in einer Spezialausgabe*, was alles sich auf diesem Gebiet getan hat, seit Sekunde, Meter und Kilogramm 1791 von den Franzosen «erfunden» worden sind. Mit dem Meter, ursprünglich definiert als ein Zehnmillionstel der Distanz zwischen Pol und Äquator, der Sekunde (1/86400 der Zeit einer Erdumdrehung) und dem in Paris unter einer Glasglocke ruhenden Ur-Kilogramm, kommen wir im täglichen Leben immer noch gut über die Runden: Allfällige Ungenauigkeiten sind derart minim, dass sie in der Praxis keine Rolle spielen.

Nano-Dimensionen

Anders in der Welt der Physiker und Chemiker. Sie sind längst in Dimensionen vorgestossen, die kleiner sind als die garantierte Genauigkeit der herkömmlichen Messsysteme. Diese sind schlichtweg zu grob und ungenau geworden, um die Feinheiten etwa der Nano-Welt damit beschreiben zu können. Messung bedeutet immer Vergleich mit einem Standard. Im Prinzip ist es egal und ändert nichts an deren Länge, ob wir eine bestimmte Distanz in Fuss oder Metern angeben, nur sollte immer und überall unmissverständlich klar sein, wie die Masseinheit definiert wird und dass daran nicht gerüttelt werden kann.

Damit wären wir wieder bei Maxwell. Die Metrolologen, die Fachleute, die neue Messsysteme ertüfteln, haben den Rat des Klassikers unter den Physikern zu Herzen genommen und streben an, sämtliche Masseinheiten an Naturkonstanten, atomaren Systemen oder Gesetzen der Quantenmechanik festzumachen und so ein für allemal den Zufälligkeiten von Umgebungseinflüssen und menschlichem Tun zu entziehen.

Zum Beispiel der Meter

Bis 1960 musste dessen Umschreibung als Bruchteil des Erdumfangs genügen. Danach ging man dazu über, den Meter in Wellenlängen einer bestimmten Lichtquelle, einer Kryptonlampe, zu eichen. Schon 1983 genügte mit dem Aufkommen der Lasertechnik auch dieser Standard nicht mehr. Seither wird der Meter mit Lichtgeschwindigkeit «gemessen»: «Ein Meter ist die Strecke, die das Licht im Vakuum während 1/299 792 458 Sekunden zurücklegt», lautet jetzt die gültige Definition gemäss SI (Système international d’unités).

Zeit ist Geld

Ähnlich die Entwicklung bei der Zeitmessung. So lange die Uhren noch nicht allzu genau liefen, genügte es, die Sekunde mit der Erdumdrehung zu eichen, auch wenn unser Planet manchmal ein bisschen «eiert» und die Tage darüber hinaus wegen der Gezeiten tendenziell länger werden. Mitte des 18. Jahrhunderts war man schon froh, wenn der Schiffschronometer mit einer Genauigkeit von einer Sekunde pro Tag lief: Damit konnte bereits mit verantwortbarer Sicherheit über den Atlantik navigiert werden (sofern der Mann am Sextant seine Sache gut machte). Die beste mechanische Uhr ging dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine hundertstel Sekunde genau. Beachtlich zwar, aber den heutigen Veranstaltern von Skirennen wäre das wohl nicht präzise genug. Erst mit der Entwicklung der Quartz-Uhr Mitte des 20. Jahrhunderts wurde dann die Zehntausendstel-Marke geritzt.

Inzwischen vermochte die Anbindung der Sekunde an die Erdumdrehung nicht mehr zu befriedigen. Ein konstanteres periodisch wiederkehrendes Naturphänomen wurde gesucht, um als «Pendel» zu dienen, und in der jährlichen Reise der Erde um die Sonne gefunden. Folglich galt ab 1956 die Ephemeris-Sekunde definiert als 1/31 556 925,9747 der Zeit, welche die Erde im Jahr 1900 für eine Sonnen-Umrundung gebraucht hatte. Dieser Standard war zwar tatsächlich etwas konstanter als die irdische Tag/Nacht-Folge, aber wegen der langen Dauer nicht eben praktisch.

Wissenschaftler testeten daher schon damals Resonanzschwingungen in atomaren Systemen auf ihre Eignung als Pendel für Zeitgeber. Und wurden im Akalimetall Cäsium fündig. Dessen Elektronen lassen sich von aussen mittels Mikrowellen in genau definierte Resonanzschwingung versetzen. Seit 1967 dauert folglich gemäss SI eine Sekunde offiziell das «9 192 631 770fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133Cs entsprechenden Strahlung.» Wenn das auch kompliziert tönt: Mit der modernsten Cäsium-Uhr lässt sich jetzt die Zeit mit einer Genauigkeit von einem Zehntel einer Milliardstel Sekunden angeben.

Für alle Zeiten genau genug, sollte man meinen. Fehlanzeige. Um Moleküle und Atome bei deren gegenseitigen Interaktionen zu ertappen, planen Wissenschaftler bereits Experimente im Bereich einer Attosekunde, das ist ein Milliardstel einer Milliardstel Sekunde. Doch auch die Metrologen ruhen nicht auf ihren Lorbeeren aus. In Entwicklung sind etwa Systeme, bei denen Hochfrequenz-Laserpulse anstelle der Mikrowellen verwendet werden, um das Cäsium zum Ticken zu bringen. Solche moderne Cäsiumuhren gehen dann immerhin um Femtosekunden (Millionstelmilliardstel) genau.

Anwendung beim GPS

Wozu dieser Wettlauf mit der Zeit, mag man sich fragen. Für den täglichen Gebrauch genügen ja Uhren die sekundengenau laufen, falls es nicht gerade sportliche Wettrennen zu stoppen gilt. Stimmt nicht. Heute schon bestimmen Atomuhren unseren Alltag, das Navigationssystem GPS beispielsweise würde nicht funktionieren ohne Zeitmessung mit einer Genauigkeit im Bereich von Milliardstelsekunden. Das hätte vor 50 Jahren auch niemand gedacht.

* «Science» Vol 306 19 November 2004

Das Kilogramm leistet Widerstand

Bis heute ist es nicht gelungen, das Kilogramm, die Einheit der Masse, mit genügender Genauigkeit auf Naturkonstanten zurück-zuführen. Daher gilt heute noch wie schon seit 1889: «Das Kilogramm ist gleich der Masse des Internationalen Kilogramm-Prototyps.» Dieses Ur-Kilogramm besteht aus Platin und Iridium (im Verhältnis 9 zu 1) und wird wie der ehemalige Ur-Meter im «Bureau International des Poids et Mesures» (BIPM) in Sèvres bei Paris aufbewahrt.

Eine unbefriedigende Situation für alle Naturwissenschaftler, die es etwas genauer wissen möchten. Zwar ruht das Ur-Kilogramm unter Glas und im Vakuum. Was aber noch lange nicht garantiert, dass dessen Masse konstant bleibt. Zumindest denkbar ist, dass bei der regelmässigen Reinigung einige Atome verloren gehen. Oder sich aus der Atmosphäre Schmutzpartikel ablagern.

Daher sind Methoden gefragt, wie das Ur-Kilogramm anders und genauer definiert werden kann. Versucht wird etwa die Anbindung an das Plancksche Wirkungsquantum über ein Experiment, das Watt-Waage genannt wird und die Verbindung zwischen mechanischen und elektrischen Kräften herstellt.

Elegant wäre natürlich, das Kilogramm direkt mit Atomen aufzuwägen. Das ist jedoch auch mit den Mitteln der Nanophysik nicht praktikabel. Am weitesten fortgeschritten ist dagegen die Kristallographie-Mehode. Dabei werden die Abstände einzelner Siliziumatome in einem ultrareinen und genau kugelförmigen Siliziumkristall gemessen. Die Masse der Kristallkugel könnte dann als Funktion der Silizium-Atommasse und der Avogadroíschen Konstante beschrieben werden. Wobei Schwankungen von Druck, Temperatur und Isotopenzusammensetzung des Siliziums eine Quelle für Ungenauigkeiten sein könnten. Ein anderer Eich-Ansatz fürs Kilogramm stützt sich auf den Druck von superfluidem Helium ab: über einen Druckstandard liesse sich auch ein Kraft- und ein Massenstandard ableiten, wird spekuliert.

Aber eben, das sind vorerst alles Spekulationen. Und so bleibt uns vorerst nur die Hoffnung, dass das Reinigungspersonal weiterhin sehr sorgfältig umgeht mit dem Kilogramm-Prototyp in Sèvres.

Vom Prügel- zum Metermass

Die Anekdote wurde mir von einer Dame in historischem Kostüm erzählt, sonst wagte ich nicht, sie hier wiederzugeben: In Annapolis habe noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die «Daumenregel» aus viktorianischer Zeit gegolten, so die Führerin beim Bummel durch Marylands Hauptstadt. Und diese Daumenregel habe per Gesetz die maximale Dicke der Rute festgelegt, mit der ein Ehemann seine Frau schlagen durfte: eben Daumendicke des Prüglers. Wir staunten.

Doch die Daumenregel ist nicht die einzige britische Masseinheit, die uns Festlandeuropäern bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu schaffen machte. Tatsächlich diente den Briten während Jahrhunderten das Gerstenkorn als Mass aller Dinge. Drei gut getrocknete Körner, der Mitte einer Ähre entnommen, machten ein Inch (heute 2,54 cm) aus. 640 Körner wogen eine Unze, zwölf Unzen (oder eben 7680 Körner) ein Pfund. Damit war aber überhaupt noch nichts klar, neben dem offiziellen Pfund kamen noch mindestens fünf weitere zur Anwendung, je nachdem ob Gold, Münzen oder Wolle gewogen wurde. Ähnlich das Ausmass der Verwirrung bei den Hohlmassen: Es gab die Wein-, Bier- und Mostgallone, alle zwischen 224 und 282 Kubik-Inch fassend.

Selbstverständlich versuchten vor allem die Steuereintreiber immer wieder, Ordnung ins Chaos zu bringen. Auch der Handel, sobald er über die Dorfgrenzen hinausreichte, hätte liebend gern mit konstant gleichen Ellen gemessen. Doch erst 1824 gelang es der Obrigkeit in London, den Tarif durchzugeben. Das metrische System Frankreichs zu übernehmen, erschien zwar als zu revolutionär. Doch immerhin wurden damals die Länge einer Yard (0,9144… m) und das Volumen einer Gallone (rund 4,5 Liter) für allgemein verbindlich erklärt, bevor dann auch auf den britischen Inseln 1963 die Stunde der Metrik schlug.

Die Wein-Gallone (231 Kubik-Inch oder ca. 3,8 Liter) überlebte übrigens in den USA, die sich bis heute nicht von den Massgaben der ehemaligen Kolonialmacht verabschieden mochten. Was sich nicht bloss als regelrechtes Handelshemmnis erweist, sondern auch im täglichen Leben den Amerikanern nichts als Ärger bringt. Etwa wenn sie mit ihrem Werkzeug am europäischen Importauto rumbasteln wollen. Oder versuchen Sie mal auszurechnen, wie viele Unzen Öl man den getankten 4,5 Gallonen Benzin zugeben muss, damit dem Zweitakter des japanischen Motorenbauers das vorgeschriebene 2-Prozent-Gemisch zugeführt wird. Viel Vergnügen.

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