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Neurowissenschaften

Wenn das Ich den Körper im Stich lässt

Neurowissenschafter haben erstmals einfache Formen ausserkörperlicher Erfahrungen im Labor simuliert

Menschen, die knapp dem Tod entronnen sind, berichten manchmal davon: wie sie sich zeitweise ausserhalb ihres Körpers wahrnahmen, gleichsam sich selbst «von oben» betrachteten. Lausanner und Londoner Neurowissenschafter konnten nun einige Aspekte solcher ausserkörperlicher Erfahrungen im Labor simulieren. Die Frage fasziniert die Menschheit seit Urzeiten: Was ist das Ich und wo befindet es sich? In räumlicher Einheit mit unserem Körper, suggeriert uns zwar die tägliche Erfahrung: Das Ich und der Körper sind örtlich vereint. Diese vermeintlich gesicherte Tatsache wird allerdings in Frage gestellt durch das Phänomen der «ausserkörperlichen Erfahrung» (AKE) oder englisch «out of the body experience» (OBE).

Während solcher Zustände hat sich das Ich, das eigene Bewusstseinszentrum, vom Körper getrennt, die Welt und das Selbst werden aus einem erhöhten Blickwinkel ausserhalb des Körpers wahrgenommen. Ein eindrückliches und verunsicherndes Erlebnis, weil damit das im Alltag real erlebte Ich prinzipiell in Frage gestellt wird. Schätzungsweise fünf bis zehn aller Menschen in den verschiedensten Kulturkreisen werden einmal in ihrem Leben mit solch einer ausserkörperlichen Erfahrung konfrontiert. Das Phänomen ist somit weit verbreitet und hat wohl aus diesem Grund auch in der Alltagssprache seine Spuren hinterlassen («ausser sich sein», «aus der Haut fahren», «neben den Schuhen stehen»).

Wie die Sprachbeispiele vermuten lassen, treten AKE-Zustände meist in Grenzsituationen auf, etwa in Zusammenhang eines Nahtod-Erlebnisses, eines Hirntraumas, bei Epilepsie und Migräne oder unter Psychodrogen. Ausserkörperliches Reisen spielt aber auch bei religiösen Sekten und vor allem im Schamanismus eine zentrale Rolle. Um Ausserkörperlichkeit auch willentlich zu erreichen, werden daher in der einschlägigen Literatur verschiedene Techniken empfohlen, wie etwa Hyperventilieren, rhythmisches Trommeln oder körperliche Tiefentspannung.

Nun nehmen in der heutigen Ausgabe von «Science» gleich zwei Forscherteams für sich in Anspruch, ausserkörperliche Erfahrungszustände im Labor zumindest ansatzweise künstlich induziert zu haben, und zwar bei gesunden Probanden. Ziel dieser Forschungsarbeiten ist, für das offensichtliche und erwiesene Vorkommen solch ausserkörperlicher Erfahrungen eine neurowissenschaftliche Erklärung zu finden. Kein einfaches Unterfangen. Der am University College London forschende Neurowissenschafter Henrik Ehrsson hat dazu seine Versuchspersonen auf einen Stuhl gesetzt und ihnen «Brillen» aufgesetzt, bestehend aus kleinen Videoschirmen. Aus zwei Meter Entfernung filmten zwei Kameras den Probanden von hinten und projizierten die Bilder auf die Videobrille. Die Versuchsperson sah also sich selbst von hinten in Stereoskopie und somit so realitätsnah wie nur möglich. Nun begann der Experimentator, gleichzeitig die Brust des Probanden (die dieser nicht sehen konnte) sowie die entsprechende Region unterhalb der beiden Kameras mit einem Plastikstab zu «streicheln». Die Versuchspersonen sahen also, wie ihr virtuelles Ebenbild in zwei Meter Entfernung vor ihnen gestreichelt wurde, gleichzeitig spürten sie den Plastikstab aber auf ihrer eigenen Brust. Diese widersprüchlichen Sinneseindrücke versetzten die meisten Versuchspersonen gemäss deren Aussagen in einen illusionären Zustand, den sie hinterher als «übernatürlich» aber weiter nicht beängstigend bezeichneten.

Henrik Ehrsson ging in einem zweiten Experiment noch einen Schritt weiter. Er bedrohte das virtuelle Bild der Probanden mit einem Hammer und bestimmte derweil anhand der Schweissabsonderung respektive Veränderung der elektrischen Haut-Leitfähigkeit die emotionale Reaktion der Versuchsperson. Tatsächlich reagierte diese so, als ob sie selber real bedroht würde. «Damit ist es erstmals gelungen, die wahrgenommene Lokalisation seines Ichs im Verhältnis zum eigenen Körper zu verändern», schreibt Ehrsson. Das Experiment zeige, was passiert, wenn man sich selbst von aussen betrachtet. Dies sei «eine sehr aufregende Entwicklung, die Folgen haben wird für eine ganze Reihe wissenschaftlicher Disziplinen, von den Neurowissenschaften bis zur Theologie», meint er.

Mit «Video, ergo sum» ist in Anspielung an den französischen Philosophen Descartes die zweite Science-Publikation zum ähnlichen Thema übertitelt. Darin beschreibt eine Forschergruppe der EPF Lausanne unter Leitung des Neurowissenschafters Olaf Blanke, wie körperliches Selbst-Bewusstsein experimentell erforscht werden kann. Im Zentrum des Interesses steht eine gewisse Hirnregion (temporo-parietale Junktion, TPJ), die an der Verarbeitung körpereigener Wahrnehmungen beteiligt ist. Dabei gehen die Lausanner Forscher davon aus, dass das «Ich», das man als «Selbst» wahrnimmt, normalerweise eng verbunden ist mit der Position des eigenen Körpers. Diese räumliche Einheit von «Ich» und Körper könne bei neurologischen Störungen durcheinander geraten und die oben beschriebenen ausserkörperlichen Erfahrungen zur Folge haben.

Das Team um Olaf Blanke, der auch am Unispital Genf arbeitet, hat nun eine Versuchsanordnung entwickelt, mit der die räumliche Einheit des «Ich» und des eigenen Körpers auch bei gesunden Versuchspersonen zumindest bis zu einem gewissen Grad geknackt werden kann. Wie beim oben beschriebenen Experiment wurde den insgesamt 28 Versuchspersonen nacheinander ein dreidimensionales virtuelles Bild ihrer selbst, einer menschlichen Attrappe oder einer Säule auf die Videoschirme vor den Augen projiziert. Die Probanden wurden teils synchron, teils asynchron zu den virtuellen Bildern am Rücken mit einem Pinsel gekitzelt und danach mit verbundenen Augen zwei Meter rückwärts geführt. Aufgefordert, sich – immer noch mit verbundenen Augen – wieder auf die alte Position zurück zu bewegen, überschossen die Versuchspersonen den Ausgangspunkt jeweils durchschnittlich um 25 Zentimeter in Richtung Standort ihres zuvor gezeigten virtuellen Bildes. Besonders deutlich war der beobachtete Effekt, wenn das vorangehende Kitzeln am eigenen Rücken synchron stattgefunden hatte mit den vorgegaukelten Berührungen an der virtuellen Projektion der Versuchsperson. Zur menschlichen Attrappe und zur Säule hingegen fühlten sich die Probanden deutlich weniger stark hingezogen.

Zwar hatten die Versuchspersonen gemäss eigenen Aussagen während des Experiments keinerlei ausserkörperliche Erfahrung. Doch schliessen Olaf Blanke und sein Team, darunter die Jung-Forscherin Bigna Lenggenhager und der Philosoph Thomas Metzinger, aus den statistisch relevanten Daten, dass die Probanden unter den vorgegebenen Versuchsbedingungen ihr Selbst um immerhin 25 Zentimeter ausserhalb des Standortes ihres eigenen Körpers lokalisiert hatten. Und dass dabei offenbar die visuellen Reize die restlichen Sinneswahrnehmungen übermässig beeinflussten.

Heisst das nun, dass das Ich sich jeweils dort befindet, wo es sich sieht? So weit will Olaf Blanke nicht gehen. «Das Ich kann auf verschiedenen Ebenen definiert werden, auf Ebene der kognitiven Wahrnehmung, auf der Ebene des Gedächtnisses und natürlich auch in einer philosophischen oder theologischen Dimension», erläutert er im Gespräch. Die unter normalen Umständen wahrgenommene räumliche Übereinstimmung von Ich und eigenem Körper sei nur ein möglicher Ansatz unter mehreren, das Selbst zu untersuchen. «Der Ansatz ist vielleicht simpel, hat aber den Vorteil, dass sich alle Disziplinen – von den Neurowissenschaften bis zur Philosophie – im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners darauf einigen könnten. Und dass er erlaubt, ihn neurowissenschaftlich anzugehen und damit eine Basis zu schaffen für weitere Forschungsarbeiten in diese Richtung.»

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