Sie sind allgegenwärtig, machen Wasserschnecken zu Zwittern und – so wird befürchtet – Männer zur Schnecke, die so genannten hormonaktiven Substanzen. Darunter werden Chemikalien verstanden, die das Hormonsystem des Menschen schon in geringsten (subtoxischen) Konzentrationen durcheinander bringen können. Das ist deshalb beunruhigend, weil ungefähr alles und jedes in unserem Körper von rund 50 Hormonen reguliert wird, Wachstum und Entwicklung, Stoffwechsel, Organisation des Gehirns – und eben auch Fortpflanzung und Geschlechtstrieb. Nun gibt es Hinweise dafür, dass dieses fein abgestimmte Regelwerk schleichend von aussen gestört werden kann durch hormonaktive Chemikalien, die teils als Folge menschlicher Aktivitäten in die Umwelt gelangen, teils in der freien Natur entstehen. Zu letzteren zählen beispielsweise Pilzgifte oder in Pflanzen enthaltene Östrogene. Den Hauptharst bilden jedoch Chemikalien, die in der Industriegesellschaft eine wichtige Rolle spielen, etwa Kunststoff-Zusätze, Düngemittel und Pestizide, UV-Filter in Textilien und Kosmetika, Flammschutz-Chemikalien bis hin zu den organischen Zinn-Verbindungen, die als Holzschutzmittel, Schiffsanstrich oder Wurmmittel in der Geflügelzucht verwendet werden. Hinzu kommen Dioxin-verwandte Substanzen aus Verbrennungsgasen oder weibliche Sexualhormone im Abwasser (Abbauprodukte der Antibaby-Pille), insgesamt ein Horror-Mix, der erwiesenermassen mit Schuld hat am Artensterben und möglicherweise auch die Fortpflanzungsfähigkeit des Mannes kompromittiert.
Jedenfalls zeigte sich auch der Bundesrat alarmiert, als er vor sieben Jahren grünes Licht gab für das Nationale Forschungsprogramm «Hormonaktive Stoffe» (NFP50). Der Katalog der in Angriff genommenen Studien ist beeindruckend. Untersucht wurden die Aktivitäten hormonaktiver Verbindungen in der Luft, im Wasser, in Fischen und Pflanzen – nicht weniger als 30 Forschungsprojekte wurden initiiert. Bis Ende Juni dieses Jahres erwartet Felix R. Althaus, der Präsident der Leitungsgruppe des NFP50, die Berichte der einzelnen Forschungsgruppen. «Wir schliessen ab, obwohl zwei Projekte wegen höherer Gewalt in Verzug geraten sind», bestätigt der Professor für Veterinärpharmakologie an der Universität Zürich im Gespräch mit der NZZaS. Und das Budget von 15 Millionen Franken werde garantiert eingehalten, versichert Prof. Althaus.
Eine der beiden Forschungsarbeiten, die den Schlussspurt bis in den Sommer nicht schaffen werden, ist die Studie über die Fruchtbarkeit junger Schweizer Männer. Mit ihr wird der Frage nachgegangen, ob punkto Spermienzahl und -qualität in der Schweiz geografische Schwankungen auszumachen sind und wenn ja: was die Ursachen sein könnten. Ursprünglich sollten bis Mitte 2007 unter den stellungspflichtigen jungen Schweizern 3000 Freiwillige zur Teilnahme an der Studie gewonnen werden. Doch die angehenden Rekruten zeigen bis jetzt wenig Lust, sich der Prozedur – sie umfasst eine gründliche Untersuchung der Geschlechtsorgane und verlangt den Probanden auch Urin-, Blut- und Spermienproben ab – zu unterziehen. «Meine Freundin hat mir die Teilnahme verboten», «Der Fragebogen war mir zu kompliziert», «Das interessiert mich nicht» und «Ich will so bald als möglich hier raus»: So etwa begründeten die jungen Leute im Rekrutierungszentrum Rüti auf Fragen der NZZaS ihre Scheu, sich in den Dienst der Wissenschaft zu stellen.
Tatsächlich konnten bis jetzt in den beiden Rekrutierungszentren von Lausanne und Rüti erst 635 Studienteilnehmer gewonnen werden, bestätigt der Biologe Michel Crausaz. Er ist Biologe und betreut im Auftrag der Lausanner Stiftung FABER (Fondation pour l’Andrologie, la Biologie et l’Endocrinologie de la Reproduction) die Fertilitätsstudie. «Wir mussten uns schon aus Kostengründen auf die beiden Standorte beschränken», sagt Michel Crausaz. Er hofft aber, mit der Zeit noch in weiteren Aushebungszentren aktiv zu werden und so bis Ende 2009 die erforderlichen 3000 Probanden beieinander zu haben. «Das wird sicher genügen, um einen zuverlässigen Überblick über die Situation in unserem Lande zu erhalten.»
Bei den meisten der im Rahmen des NFP50 gestarteten wissenschaftlichen Arbeiten läuft jedoch alles rund. «Es wurde hervorragende Arbeit geleistet», schwärmt Programmleiter Althaus. In einem Fall wurde sogar etwas entdeckt, nach dem man gar nicht gesucht hatte. Serendipity nennt man das unter Wissenschaftern: Ob und wie Phyto-Oestrogene, also von Pflanzen gebildete weibliche Geschlechtshormone, in der Nahrungskette die Entwicklung der männlichen Zeugungsorgane stören, wollte Prof. Serge Nef vom Genfer «Centre Médical Universitaire» erforschen. Herausgefunden haben er und sein Team dann so «nebenbei», dass männliche Versuchsmäuse weniger Fett ansetzen und körperlich viel aktiver sind, wenn sie mit Soja-reicher Diät gefüttert werden. «Soja-Diät könnte auch den Menschen vor Übergewicht und den damit einhergehenden Gesundheitsrisiken schützen», hofft nun der Genfer Forscher.
Mit einem interessanten Ergebnis – um nur ein weiteres Beispiel zu erwähnen – kann auch der am Institut für Umwelttechnik der Fachhochschule Nordwestschweiz lehrende Ökotoxikologe Prof. Karl Fent aufwarten. Dass UV-Filter aus Sonnenschutzmitteln inzwischen auch die Schweizer Seen infiltriert haben, ist bekannt. Nicht klar war bisher jedoch, ob und wie diese bisweilen hormonaktiven Substanzen in den Reproduktionszyklus der Wasserlebewesen eingreifen. Sie sind tatsächlich ein Störfaktor, haben Prof. Fent und seine Mitarbeiter herausgefunden. Und zwar konnten sie mit ihrem auf transgenen Hefezellenkulturen beruhenden Messverfahren nachweisen, dass ein Gemisch verschiedener UV-Filter manchmal mehr Schaden anrichtet, als von der Summe der einzelnen Komponenten zu erwarten wäre. Dass sich somit die einzelnen Schadenskomponenten in ihrer Wirkung nicht addieren, sondern in einigen Fällen sogar multiplizieren.
So weit, so schlecht. Doch welche Folgerungen werden zu ziehen sein, falls die im Rahmen des NFP50 gewonnenen Erkenntnisse den Verdacht gegenüber den hormonaktiven Substanzen auf breiter Basis erhärten sollten? Müsste dann nicht alle diese Chemikalien verbannt, quasi die gesamte Industriegesellschaft ungekrempelt werden? So weit will Programmleiter Felix Althaus nicht gehen. «Wir wollen weder eine Verbots-Welle auslösen noch einen Streit entfachen zwischen Wissenschaft und Industrie», beschwichtigt er auf Anfrage. Gerade das Beispiel der hormonaktiven UV-Filter zeige ja auch, dass die Sache nicht so einfach übers Knie gebrochen werden kann. Hier herrscht ein echter Zielkonflikt: Geht›s nach den Dermatologen, können sich Mann und Frau am Strand nicht sorgfältig genug schützen vor den gefährlichen UV-Strahlen, unter anderem eben auch, indem sie ihre Haut reichlich mit Sonnenschutzcrème einreiben. Damit sinkt zwar das Hautkrebs-Risiko für den Menschen, gleichzeitig wird aber möglicherweise die Fortpflanzungsfähigkeit von Fischen und Fröschen aufs Spiel gesetzt.
Die allenfalls zu treffenden Massnahmen müssten auch ökonomisch sinnvoll sein, sagt Prof. Althaus. «Gescheiter als Verbote zu fordern ist es, den Ersatz der heiklen Chemikalien anzustreben. So könnte etwa der Hinweis ‹ohne hormonaktive Substanzen› ein wirkungsvolles Verkaufsargument sein», ist er überzeugt. Mittels Konsensus-Plattformen werden die gefundenen Daten nun mit der Industrie und den Behörden besprochen, damit der Politik dann bereits durchdiskutierte konsensfähige Lösungsvorschläge präsentiert werden können. «Je nach Resultat der Risikoabschätzungen können die Empfehlungen ‹Kein Handlungsbedarf› oder ‹Weiter beobachten› lauten», sagt Prof. Althaus. Falls sich dies als hilfreich erweisen sollte, wäre beispielsweise aber auch der Bau weiterer Klärstufen «bei all den 70 Abwasserreinigungsanlagen in der Schweiz empfehlenswert, die demnächst sowieso renoviert werden müssen». Ende Jahr werde man Bundesrat Couchepin die Empfehlungen der Konsensus-Plattformen überreichen können. «Wir hoffen, dass die Politik dann genügend Unterlagen zur Verfügung hat, um allenfalls notwendige Massnahmen zu ergreifen», so der NFP50-Programmleiter.
Box: Munitionsreste vorläufig aus dem Schussfeld
Ob die auf dem Seegrund deponierten Munitionsreste der Schweizer Armee schuld sein könnten an den seit dem Jahr 2000 häufig zu beobachtenden Keimdrüsen-Missbildungen bei Thunersee-Felchen: Dieser Frage ist Prof. Helmut Segner mit seinem Team vom Zentrum für Fisch- und Wildtiermedizin der Universität Bern im Rahmen des NFP50 nachgegangen. Um es vorweg zu nehmen: Für diese in den Medien häufig kolportierte These konnten bis jetzt keine Beweise erbracht werden: «Chemische und bioanalytische Untersuchungen haben bisher keine Hinweise für eine Belastung des Thunersees mit hormonaktiven Stoffen geliefert», sagt Helmut Segner. Das heisse nicht, dass keine solchen Substanzen vorhanden sind, «aber zumindest die bisher verdächtigten Stoffe sind entweder gar nicht nachweisbar oder dann nur in sehr niedrigen Konzentrationen präsent.» Man habe in den Fischen auch nach dem Eidotter-Protein Vitellogenin gesucht, einem empfindlichen Indikator für die Exposition gegenüber hormonaktiven Substanzen. «Wir finden aber diesbezüglich keine Auffälligkeiten, weder bei gesunden Fischen, noch bei solchen mit veränderten Gonaden.»
Somit bleibt die Frage vorerst ungeklärt. Auch nicht eben hilfreich war, dass die Versuchsanlage am Ufer des Thunersees während des Hochwassers vom Sommer 2005 weggeschwemmt wurde und mit ihr der ganze Bestand an Versuchsfischen. «Daher haben wir mindestens ein Jahr auf die Marschtabelle verloren», so Prof. Segner.
Probleme anderer Art hat da Prof. Patricia Holm, Leiterin des Instituts «Mensch, Gesellschaft, Umwelt» der Universität Basel. Sie hat zusammen mit anderen Forschergruppe untersucht, wie weit in Schweizer Gewässer geschwemmte hormonaktive Substanzen die Bachforellen-Bestände gefährden. «Die Chemikalien sind nachweisbar, und zwar in Konzentrationen, die bei einzelnen Fischen tatsächlich die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen», sagt sie. Ob aber diese Veränderungen, die auf Molekül-Ebene bei einzelnen Exemplaren festzumachen sei, sich auch negativ auf die gesamten Populationen auswirken, «können wir nicht sagen, das wäre verwegen.» Bachforellen brauchen drei bis vier Jahre bis zur Geschlechtsreife, «da muss man über einen längeren Zeitraum mehrere Male Daten erheben, bis eine Tendenz nachgewiesen werden kann.»
Parallel zu den Feldbeobachtungen wurden auch Laboruntersuchungen angestellt. «Wir haben die Embryonal- und Jugendentwicklung der Fische unter dem Einfluss von östrogenartigen Substanzen in den Konzentrationen untersucht, wie sie in unseren Gewässern vorkommen, und wollten sehen, ob dies negative Auswirkungen hat.» Denn Kollegen in England hätten unter ähnlichen Laborbedingungen bei Rotaugen (Karpfenfischen) gehäuft das Heranwachsen von Zwittern beobachtet. Dieses Phänomen tritt jedoch laut Prof. Holm bei Bachforellen erst bei unwahrscheinlich hohen Konzentrationen auf. «Fisch ist eben nicht gleich Fisch», meint sie lapidar.