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Ein Tag im Leben eines Hausarztes

Der Hausarzt (gemeint ist natürlich immer auch die Ärztin) ist als erster Ansprechpartner der Patienten die wichtigste Figur im Gesundheitswesen. Sagen die Politiker. Demnach müsste eine Karriere als Allgemeinpraktiker unter angehenden Medizinerinnen und Medizinern eigentlich überaus populär sein. Ist sie jedoch nicht. Vielmehr fristet der Hausarzt eher das Leben eines Aschenputtels innerhalb des Ärztestandes. Von den Spezialisten-Kollegen ein wenig bemitleidet wegen des langen Arbeitstages und der relativ bescheidenen Entlöhnung, nicht ganz ernst genommen ob der angeblich eintönigen und intellektuell anspruchslosen Arbeit. Dass zumindest letzteres auf eklatanter Fehleinschätzung beruht, davon konnte sich der Reporter mit eigenen Augen und Ohren überzeugen.

Kurz vor halb acht Uhr brennt schon das Licht. Auf den ersten Blick glaubt man sich nicht in einer Arztpraxis. Am Eingang grüsst munteres Vogelgezwitscher. Die Finken sind bereits hell wach in der grossen Volière, andere Vögel sitzen geduldig auf ihren Eiern, obwohl es Winter ist. Das Wartezimmer erinnert an die Wohnstube einer Grossfamilie. «Wir legen Wert darauf, dass sich die Patienten bei uns wie zu Hause fühlen», erklärt Dr. Tschudi, während er mich in sein Behandlungszimmer führt. Auch hier ist die Atmosphäre wohnlich, medizinisch-technische Untersuchungen werden im Nebenraum durchgeführt.

Dr. Tschudi hat einem eher unüblichen Experiment zugestimmt. Einen Tag lang dürfe der Journalist ihm bei der Arbeit über die Schultern gucken, hatte er versprochen. «Kommen Sie morgens um halb acht», schlug er am Telefon vor. «Bis etwa sieben Uhr abends wird es schon dauern, Mittagspause machen wir eine halbe Stunde.» Was die Patienten dazu sagen werden? «Lassen Sie das meine Sorge sein.» Mit einigen habe er gesprochen, andere seien sicher problemlos. Nur einen einzigen schwierigen Fall habe er umgebucht. Ich würde also wirklich einen ganz normalen Tag im Leben eines Hausarztes miterleben.

So sitze ich denn an einem trüben Wintermorgen im Sprechzimmer, seitlich neben dem Pult des Arztes, und harre gespannt der Dinge. Dr. Tschudi muss noch ein bisschen «aufräumen», aufarbeiten, was am Vorabend liegen geblieben ist, Krankengeschichten nachtragen, Überweisungen schreiben, Krankenkassenbelege ausfüllen usw.. Inzwischen unterhalte ich mich ein wenig mit Birgit Bucher über Gott und die Arzt-Welt. Sie studiert Medizin im 7. Semester und absolviert hier das Einzeltutoriat (vgl. «Wie man Hausarzt wird»).

Dann, um 8 Uhr, holt Dr. Tschudi die erste Patientin im Wartezimmer ab. «Ich begleite die Patienten immer persönlich ins Sprechzimmer. Wie sie aufstehen, gehen und sich wieder setzen, der Gesichtsausdruck: Das alles liefert mir bereits eine Menge Informationen. In den meisten Fällen kann ich daraus schon abschätzen, ob was Ernsthaftes vorliegt.»

Im Falle von Frau A. liegt nichts Ernstes oder zumindest nichts Akutes vor. Sie leidet ab und zu unter hohem Blutdruck, der sich zwar mit Medikamenten gut regulieren lässt. Das ist Frau A. jedoch unsympathisch, sie will nicht das ganze Leben lang von Pillen abhängig sein. Lieber möchte sie ihre Lebensweise ändern. Doch zuvor gilt es abzuklären, wann und weshalb im Tagesverlauf der Blutdruck in die Höhe schnellt. Kommts vom Turnen oder vom Stress bei der Arbeit? Dr. Tschudi misst den Blutdruck: 158/90, tatsächlich zu hoch. «Wahrscheinlich das Weisskittel-Phänomen, viele Patienten haben beim Arzt erhöhten Blutdruck.» Ein 24-Stunden-Blutdruck-Profil soll Klarheit schaffen.Sorgfältig legt er die Manschette um den Oberarm, schliesst die Kabel an das kleine Kästchen an, das A. nun einen Tag und eine Nacht lang auf sich tragen wird. Sie solle aufpassen beim Turnen, dass die Manschette nicht verrutscht, rät der Arzt – und duschen sei nicht ratsam.

«Auch mit solchen Problemen werde ich konfrontiert», sagt Dr. Tschudi und schiebt mir einen Brief zu. Es ist ein Abschiedsbrief einer seiner Patientinnen. Frau B. schreibt aus dem Elsass und dankt Dr. Tschudi für die gute Betreuung in all den Jahren. Leider könne sie sich seine Behandlung künftig nicht mehr leisten, die französische Krankenkasse bezahle das nicht. «Eine traurige Geschichte», kommentiert der Arzt. Die Frau sei mit ihrem kranken Mann ins Elsass gezogen, wo sie dank den tieferen Lebenshaltungskosten einigermassen durchkam mit ihrem Lohn aus einer Halbtagsstelle, ohne die Sozialhilfe zu bemühen. Doch nun hat sie den Job verloren und der Mann ist auch gestorben. Jetzt sitzt sie einsam und arbeitslos im Elsass, ein Arztbesuch in der Schweiz erscheint unerschwinglich. Was er tun werde? «Ich werde Ihr schreiben, dennoch vorbeizukommen, falls sie mich braucht. Ich werde sie wohl gratis behandeln», meint Dr. Tschudi.

Dass Dr.Tschudi und seine Kolleginnen und Kollegen für Gottes Lohn arbeiten müssen, kommt öfters vor. «In Basel ist es so, dass die Arztrechnung an die Patienten geht, und die müssen das Honorar bei der Krankenkasse einfordern. Wenn dann die Rückvergütung eintrifft, ist die Arztrechnung oft vergessen gegangen und das Geld wird anderweitig ausgegeben, der Arzt hat das Nachsehen.» Was tun? «Mahnen und Betreiben hat meist keinen Sinn, weil eh nichts zu holen ist.» Hat er den Eindruck, der Patient sei wirklich in einer Notlage, verzichte er eben auf das Honorar. Aber der Hausarzt kennt seine Pappenheimer: Wenn er aus Erfahrung weiss, dass das Krankenkassengeld wohl wieder einmal verplempert wurde, fordert er beim nächsten Behandlungstermin 20 Franken bar in die Hand. «Damit die Schlaumeier wenigstens einen kleinen Unkostenbeitrag leisten.»

Inzwischen steht die Uhr auf halb Neun. Probleme und Wünsche gleich im Multipack hat C. mit zu ihrem Hausarzt gebracht. Ein lästiges «Überbein» ist der jungen Frau am Handgelenk gewachsen, hinter dem Ohr hat sich ein Knoten gebildet, zudem juckt eine nässende Entzündung im linken Gehörgang. Und da sie schon mal hier ist, möchte sie auch gleich noch ihre Polio-, Starrkrampf- und Hepatitisimpfungen auffrischen. Ein Fall für Birgit Bucher. Sorgfältig untersucht sie den Gehörgang von Frau C. und kann beruhigend feststellen, dass das Trommelfell intakt ist. Was es mit dem Knoten hinter dem Ohr auf sich hat, kann sie im Moment nicht sagen. Wahrscheinlich nichts Schlimmes, denn Schilddrüsen und Lymphknoten erscheinen beim Abtasten unauffällig. Doch was ist eigentlich ein «Überbein»?

Dr. Tschudi hilft nach. «Das nennt man Ganglion, es ist im Prinzip harmlos eine Ausstülpung im Bereich der Gelenkkapsel.» Man könnte es operieren, aber das sei heikel. «Am besten warten wir einmal ab, wie sich das entwickelt, da es schmerzlos ist und nicht gross stört.» Vorläufig Geduld walten lassen lautet auch die Empfehlung beim Knoten hinter dem Ohr, der nichts weiter ist als eine kleine Talgzyste. «Falls es nicht besser wird, schneiden wirs raus.» Den Gehörgang der Frau C. kennt der Arzt bereits von früher. «Wieder einmal ein Ekzem». Er verschreibt ihr eine Kortison-Salbe. – Mindestens während zwei Wochen täglich eincrèmen, auch wenn’s bereits nach 1 bis 2 Tagen besser geworden ist. Und vor allem: Nicht kratzen», empfiehlt er. Die Nach-Impfung darf Birgit Bucher durchführen.

Nein, unter Kopfschmerzen leide er nicht und auch die Verdauung funktioniere gut. Er stehe «unter einer gesunden Spannung», meint der jugendlich wirkende Mann – im Finanzsektor tätig, schätze ich. Der Grund, weswegen Herr D. heute bei seinem Hausarzt sitzt: Seine Hände zittern. «Das stört mich sehr.» Auch Herr D. ist ein alter Bekannter. «Ich kenne die ganze Familie, schon als er noch Bub war», erklärt mir der Arzt später. Auf die Waage bringt der damalige Bub jetzt stolze 86 Kilogramm,» immerhin elf weniger als das letzte Mal», bemerkt sein Hausarzt anerkennend. Blutdruck 160/95 deutlich zu hoch. Die Medizinstudentin testet Knie- und Fussreflexe: Sie sind leicht verstärkt. «Das Zittern hat sicher keine neurologischen Ursachen, weder eine Parkinson-Erkrankung noch ein Tumor steckt dahinter», kann der Arzt beruhigen. Vielmehr könnten die verstärkten Reflexe auf eine leichte Schilddrüsen-Überfunktion schliessen lassen oder dann komme auch ein essentieller Tremor mit unbekannter Ursache in Frage. Aber «Nervenstress» diagnostiziert der Hausarzt bei seinem Schützling und nimmt ihn ein bisschen ins Gebet: «Ihr Zustand widerspiegelt Ihre Lebensweise – Sie zehren von Ihren Reserven. Wir haben schon früher darüber gesprochen: Sie sollten weniger arbeiten, sich selber mehr Zeit gönnen und wieder mehr Sport treiben», dann werde auch das Zittern bald verschwinden. D. verspricht es – ob er es halten kann?

Vorsichtig tastet Birgit Bucher den Bauch des Babys ab. Frau E. hat ihren Sprössling zum Doktor gebracht, weil der Kleine einige Nächte nicht geschlafen hat und unter Fieber, Durchfall und Erbrechen litt. Jetzt ist obendrein noch ein Hautausschlag auf dem ganzen Körper hinzugekommen. Das Baby scheint es nicht gross zu stören: Vergnügt strampelt er auf dem Untersuchungstisch und strahlt über alle Backen. «Die Leber ragt etwas unter dem Rippenbogen hervor», meldet Birgit. Das sei jedoch normal in diesem Alter, weiss sie. Die Reflexe sind normal, auch die Augen folgen brav allen Bewegungen vor dem Gesichtlein. «Dem Kleinen fehlt eigentlich nichts mehr», kann Dr. Tschudi die Mutter beruhigen. «Er litt wohl unter dem, was man Dreitage-Fieber nennt, einer der vielen Virus-Infektionen, die Kinder in diesem Alter durchmachen.» Auch der feinfleckige Hautausschlag sei eine Reaktion des Körpers auf einen durchgestandenen Virusinfekt. Der Arzt verschreibt Zäpfchen für den Fall, dass das Fieber zurückkehrt. Und verabreicht dem Kleinen, da er nun schon mal hier ist, gleich die zweite Serie der Grundimpfung. Nicht einmal das vermag dem jungen Mann die gute Laune zu verderben.

Sie hat in dieser Jahreszeit viele Leidensgenossen: Fieber hat Frau F. zwar keines – der Arzt misst 37,4 Grad, aber die Nase läuft, Hals, Kopf und Nacken schmerzen seit drei Tagen. «Hals und Nase sind entzündet», bestätigt die Medizinstudentin. «Ein typischer Virusinfekt, das geht zur Zeit um», diagnostiziert der Arzt. Er verordnet Gurgeln (dreimal täglich während vier Tagen), Hustensirup, Aspirin. Und schreibt Frau F. für den Rest der Woche krank. Sie arbeitet in der Fischabteilung eines Warenhauses, muss somit ständig mit Eis hantieren. Dies sei in ihrem jetzigen Zustand weder Frau F. zumutbar – noch deren Kunden, findet der Arzt.

Nach der 10-Uhr-Kaffeepause hinkt Frau G. ins Sprechzimmer, sichtlich unter Schmerzen. Seit drei Wochen sei wieder alles verspannt, von der Schulter bis ins Kreuz, klagt sie. Nein, Spritzen möchte sie vorläufig keine mehr, «ich versuche lieber, ohne auszukommen». Aber die Physiotherapie habe ihr jeweils gut getan, «die Therapeutin hat mich immer wieder zwäg gerichtet». Ob der Herr Doktor ihr das nochmals verschreiben könnte? fragt Frau G. beinahe scheu. Der tuts und schreibt gleich noch ein spannungsmilderndes Medikament aufs Rezept. Wie es denn dem Sohn jetzt gehe, fragt er noch. «Er kämpft immer noch mit den vereiterten Gehörgängen», erzählt Frau G. «Wir versuchen es jetzt noch mit Akupunktur.» Frau G. verabschiedet sich, beinahe entschuldigend, dass sie die Zeit ihres Arztes in Anspruch genommen hat.Birgit Bucher und ich können uns keinen Reim machen auf diesen Auftritt. Erst die Erklärungen des Arztes geben uns eine Ahnung vom Drama, das hinter dem Fall steckt. Frau G. leidet an einer Myelopathie, Erkrankung des Rückenmarks, Folge einer HIV-Infektion. Angesteckt worden ist die Frau von ihrem Ehemann, der als Monteur weit in der Welt herumkommt. Unglücklicherweise habe man die Infektion bei Frau G. erst entdeckt, als deren Sohn an Aids erkrankte. «Und ich kann nun nichts weiter tun, als die Frau einigermassen ‹funktionsfähig› zu erhalten, damit sie trotz ihrer schweren Erkrankung für ihre Kinder (inzwischen wurde ein zweites geboren) und den Mann da sein kann – wenn er denn einmal zu Hause ist.»

«Wenn ich schon da bin, könnten Sie doch das für mich erledigen», sagt H. und schiebt dem Doktor ein Bündel Papiere über den Tisch. Schriftverkehr zwischen Spitex und Krankenkasse, Rechnungen, von denen nicht klar zu sein scheint, wer was bezahlen muss, «das ist mir zu kompliziert», meint die alte Dame resolut. Sie war vor vier Jahren mit Magen/Darm-Blutungen in die Praxis gekommen. Leberzirrhose lautete die Diagnose. «Seither habe ich keinen Tropfen mehr getrunken, höchstens hin und wieder ein alkoholfreies Bierchen oder ein Rittergold», versichert H. mit einem Augenzwinkern. Der Doktor nimmt ihr das ab, die Blutwerte scheinen so weit in Ordnung. Den Blutdruck muss er durch den Ärmel der Bluse messen, «sonst müssen sie ihn selber wieder zuknöpfen». Auch sonst ist Frau H. nicht auf den Mund gefallen, wie ein Rohrspatz schimpft sie über den Ausgang der Basler Regierungsratswahlen und verspricht beim Hinausgehen, ihren Herrn Doktor bald wieder zu besuchen.

«Ich rauche jetzt nur noch 18 pro Tag, vorher waren es 40»: Herr I. ist stolz auf seinen Teilerfolg. Probleme machen immer noch Blutdruck und Übergewicht. «Es gab eine Reorganisation im Geschäft, seither muss ich mit weniger Leuten mehr Leistung bringen, das gibt ständig Ärger.» Stress, den er mit Rauchen abzubauen versucht und «den paar Bierchen am Feierabend in der Beiz, zum Abschalten». In einem Blutdruck von 180/90 und 90 Kilogramm Gewicht (bei 180 Zentimeter Grösse) schlägt sich der ungesunde Lebenswandel nieder. An den Arbeitsbedingungen des Herrn I. kann der Arzt auch nichts ändern. Aber ruhig und sachlich bespricht er mit ihm die Ziele, die er persönlich für seine Gesundheit erreichen möchte. Mehr Bewegung, weniger Bier und wenn möglich noch weniger rauchen wäre gut, da sind sich beide einig. Zum Abschluss der Konsultation noch ein Erfolgserlebnis: Die Lungenfunktionskontrolle ergibt, dass sich die Atmungskapazität von Herrn I. seit der letzten Messung deutlich gebessert hat. «Schon die Halbierung des Zigarettenkonsums hat etwas gebracht», stellen Arzt und Patient befriedigt fest.

«Ich messe bei möglichst allen Rauchern unter meinen Patienten auch die Lungenfunktion», erklärt Dr. T. hinterher. Er nimmt teil an einer breit angelegten Studie in Hausarztpraxen, mit der herausgefunden werden soll, wie die Schweizer Durchschnittsbevölkerung atmet, «darüber weiss man nämlich sehr wenig». Generell findet er, es sollte mehr an der Front geforscht werden, direkt bei den Hausärzten in ihrer Praxis. «Denn bei uns spiegelt sich der medizinische Alltag.» Forschung in der Klinik sei wichtig, «aber oft sind die Resultate und die daraus abgeleiteten Empfehlungen für uns praktische Ärzte von geringem Nutzen, weil die Verhältnisse und das Patientenkollektiv im Spital eben nicht vergleichbar sind mit denjenigen draussen in der Praxis.»

Auch Herr K. unterzieht sich der Lungenfunktionskontrolle. Und auch bei ihm ist seit der letzten Messung eine Verbesserung um zehn Prozent zu registrieren. Aber eigentlich ist er wegen seiner Bandscheibe gekommen. Die Operation war ein voller Erfolg, kommen er und sein Arzt zum Schluss, «das wird die nächsten 60 Jahre halten». Vor der Operation war im linken Bein gar kein Gefühl mehr vorhanden, jetzt sind die Reflexe beinahe wieder normal. Auch K. raucht eigentlich noch zu viel. Der Arzt mag jedoch nicht zu sehr darauf herumreiten. «Wichtig ist für Sie in erster Linie, das Körpergewicht unter Kontrolle zu bekommen. Man kann nicht alles auf einmal wollen.»

12 Uhr. Eigentlich wäre jetzt die kurze Mittagspause angesagt. Aber da hat die Praxisassistentin noch Frau L. mit ihrem zehnjährigen Sohn und der kleinen Tochter dazwischen geschoben. Der Bub hat die ganze Nacht gehustet und damit auch dem Rest der Familie den Schlaf geraubt. Fieber und Halsschmerzen hat er nicht. Der Doktor schaut nach und horcht ab. Hals und Ohren in Ordnung, lautet der Befund, die Bronchien seien etwas verschleimt. Dagegen wird ein Hustensaft verschrieben, der zugleich das Einschlafen erleichtert. Auch das Schwesterlein wird verarztet: Fürs Ekzem am Finger gibts eine Salbe.

Endlich ein kleines Mittagessen im Restaurant um die Ecke. Kleiner Salat und Teigwaren mit Rabiata-Sauce. Wir lassen den Vormittag Revue passieren. Ist mein Eindruck korrekt, dass der Herr Doktor in der Praxis viel mehr ist als bloss Arzt, oft auch Funktionen des Sozialarbeiters übernimmt, des Beraters in misslichen Lebenslagen, ja manchmal auch als Priester-Ersatz zu dienen hat? Dr. Tschudi nickt. Und erzählt von den Drogenkranken, die er auch noch betreut: «Sie werden einen am Nachmittag treffen». Bevor bei diesen Patienten überhaupt an eine Therapie zu denken ist, müsse man versuchen, einen Schulden- und Straferlass («meist Bagatellfälle») auszuhandeln. «Arbeit muss gefunden werden und eine Wohnung, damit der meist junge Mensch wieder eine Zukunftsperspektive hat.» In Zeiten der Budgetkürzungen beim Sozialamt bleibt auch all das noch am Hausarzt hängen.

Häufiger Harndrang, Brennen beim Wasserlassen. Ein klarer Fall: Frau M. hat sich bei der Arbeit im Freien eine Blasenentzündung geholt. Ein Antbiotikum wird es richten. «Aber die ganze Packung aufbrauchen, damit sich keine resistenten Stämme entwickeln können», mahnt der Arzt. In einer Woche werde man nochmals den Urin untersuchen und danach weiter sehen.

Ein Aussteiger. Mit 50 hat er sein gut gehendes Geschäft verkauft, wollte fortan «das Leben geniessen». Doch das ging daneben. Allein gelassen während einer luxuriösen Weltreise wurde Herr N. von der grossen Leere eingeholt. Die versuchte er mit Alkohol und Nikotin zu überspielen. Doch der Notanker ist zum Klotz geworden, bereits lässt das EKG Durchblutungsstörungen in den Herzkranzgefässen vermuten. Anzeichen einer Asthma-Erkrankung gibt es ebenfalls, ist aus dem Resultat der Lungenfunktionskontrolle zu schliessen. «Sie wissen selbst, dass es so nicht weiter geht», redet Dr. Tschudi seinem Patienten ins Gewissen. «Das weiss ich, aber was soll ich tun?», erwidert N. «Der Geist ist willig … Aber ohne Alkohol und ohne Zigaretten halte ich es nicht aus, da drehe ich durch.» Er werde ihm helfen, verspricht der Arzt. Zuerst müssten die Herzprobleme von einem Spezialisten genau abgeklärt werden. «Und dann machen wir zusammen einen Plan, was wir innert eines Jahres erreichen wollen. Mit dem Rauchen sollten Sie unbedingt ganz aufhören, den Alkoholkonsum reduzieren, zudem brauchen Sie mehr Bewegung.» Die beiden einigen sich, dass N. künftig vor dem Fernseher bloss noch eine halbe Flasche Wein trinkt – momentan sind es deren zwei. Damit die Hürde nicht unüberwindlich wird, erhält N. Nikotinpflaster verschrieben und ein leichtes Psychopharmakon, das auch gegen die Schlafstörungen helfen sollte. «In einem Jahr bin ich ein anderer Mensch», verspricht der Patient. «Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen, ohne meinen Hausarzt wäre ich nicht mehr da», sagt er zu mir gewandt. «Aber jetzt sehe ich wieder Licht im Tunnel. Auch in meinen persönlichen Verhältnissen hat sich einiges geändert. Vor allem: ich habe jetzt auch beruflich wieder eine kleine Aufgabe.»

«Jetzt werden Sie einen meiner Musterkunden kennen lernen». Vor zehn Jahren war O. wegen einer schmutzigen Spritze an Endokarditis, einer Entzündung der Herzinnenhaut, erkrankt. «Das war knapp damals», erinnert sich der Arzt. «Nie mehr», hatte O. darauf versprochen – doch zwei Jahre später war es dasselbe in Grün. Danach lebte O. drei Jahre in Spanien, «drogenfrei», versichert er: «Ich hatte dort eine Aufgabe, einen Job auf einem Campingplatz.» Doch dies ist leider Geschichte. O. musste zurückkehren ins kalte Basel, ins alte Milieu mit den alten Versuchungen. Denen er nicht standhalten konnte. «Es ist unglaublich, in Basel steht an jeder Ecke ein Dealer, die ganze Stadt ist voll davon, wie kann man so sauber bleiben? Da sollte hart durchgegriffen werden.» Inzwischen hat sich der 42jährige auch noch mit dem HIV angesteckt, bezieht eine IV-Rente und beim Hausarzt regelmässig seine Dosis Methadon. Was er sich vom Leben wünsche? «Mehr Sonne, nicht allein durchs Leben gehen zu müssen und einen interessanten Job – aber nur etwa zwei Stunden pro Tag», fügt er rasch hinzu.Bevor er sich verabschiedet schiebt O. dem Arzt noch ein Kuvert übers Pult. «Das Übliche». Tatsächlich das Übliche, seufzt dieser: Jedes Jahr sendet die Steuerbehörde O. beharrlich eine Betreibung ins Haus. Und jedes Jahr schreibt der Hausarzt zurück und versucht den Leuten im Finanzdepartement beizubringen, dass das wohl nichts bringt.

Dann zur Abwechslung eher wieder ein Routinefall. Frau P. hat seit drei Tagen Bauchschmerzen, Durchfall, Schmerzen in Beinen und Rücken und fühlt sich schwach. Mit der Blase der Patientin ist alles in Ordnung, zeigt die Urinuntersuchung. Der Doktor tippt auf Magen-Darm-Grippe, verschreibt Zäpfchen und rät, nach drei Tagen wieder in die Praxis zu kommen, falls es nicht besser geht.

Der Teenager nimmt seine Rolle ernst als Goalie, vielleicht ein wenig zu ernst. Jetzt liegt Q. auf dem Schragen und der Arzt inspiziert die malträtierten Knie. Die grossflächigen Schürfwunden, die über Wochen immer wieder neu aufgescheuert wurden, müssen ernst genommen werden, «sonst bleiben Narben zurück, die ständig drücken», mahnt Dr. Tschudi. Und verschreibt eine vierwöchige Kur mit einer Spezialcrème. Trainieren dürfe er wieder, wenn alles abgeheilt sei, «aber nur mit gepolsterten Knieschonern». Bezüglich der Akne, die den jungen Mann auch noch plagt, empfiehlt der Doktor tägliche Hautpflege und weiter etwas Geduld.

Dann wieder ein Fall, der Rätsel aufgibt. Unter chronischen Schmerzen und Verspannungen in der rechten Schulter leidet der junge Mann schon seit längerer Zeit. Physiotherapie hat nichts gebracht. Und jetzt ist er auch noch erkältet. Der Arzt horcht ihn gründlich ab, vom Schultergelenk wird ein Röntgenbild angefertigt. «Nichts Ernstes», lautet die Diagnose. Ob er Stress habe im Job? «Ja, schon», erwidert R., «die Arbeitsbelastung nimmt ständig zu». Aber im Team gehe es gut. Nein, mit dem Chef habe er nicht gesprochen über seine Gesundheitsprobleme. Der scheine mit ihm zufrieden zu sein, jedenfalls sende er ihn jetzt nach London, um Englisch zu lernen. Das Ziel müsse sein, schmerzfrei arbeiten zu können, sind sich Arzt und Patient einig. «Sie sollten auch aktiv zur Verbesserung ihrer körperlichen Situation etwas beitragen», mahnt der Arzt. Regelmässig Schwimmen etwa täte der Schulter sicher gut. Für die verstopfte Nase gibt es eine befeuchtende Salbe.

Es ist halb vier, Zeit für den täglichen Ärzterapport. Gelegenheit, alle Ärzte in der Praxis auf denselben Wissensstand zu bringen, schwierige Fälle zu besprechen und Röntgenbilder nochmals gemeinsam durchzugehen. Heute ist neben Dr. Tschudi noch Dr. Ott im Haus, die Kollegin und ein Kollege kompensieren Wochenend-Dienste. Wie die Organisation in einer Gruppenpraxis funktioniere, wie die Kosten verteilt und die Löhne ausbezahlt werden? «Das handhaben wir möglichst unkompliziert», erklärt Dr. Tschudi. Alle Einnahmen kommen in den Pool, davon werden die Unkosten bezahlt – «die Löhne der Praxisassistentinnen und des übrigen Personals machen den grössten Teil aus» – vier Praxisassistentinnen teilen sich ein 300-Prozent-Pensum, dazu komme drei Lehrtöchter. Was übrig bleibt, wird unter die Ärzte (3,5 Stellen) aufgeteilt, «gemäss Anzahl halbe Tage, die wir im Einsatz waren». Das sei am einfachsten so, Probleme könnte es höchstens geben, wenn nicht alle ausgelastet wären. Da ist eher das Gegenteil der Fall, wie der heutige Tag beweist.Die Zusammenarbeit in einer Gruppenpraxis bringt auch den Vorteil, dass Labor und Röntgenapparat gut ausgelastet sind. «Ohne möchte ich es nicht machen», meint Dr. Tschudi. «Stellen sie sich vor, ich muss einen Patienten in ein Röntgeninstitut überweisen um abzuklären, ob der Daumen jetzt gebrochen oder verstaucht ist. Dort muss er womöglich nochmals warten, danach in die Praxis zurückkommen – und all das bei diesem miesen Wetter. Das wäre unzumutbar für die Patienten.»

Eine Dame wie aus dem Ei gepellt. Vor dem Arztbesuch war sie wohl extra beim Coiffeur. Obwohl S. bereits seit 35 Jahren in der Schweiz lebt, spricht sie kaum Deutsch. Kein Problem, der Herr Doktor beherrscht sein Italienisch. Wegen ihres Herzens ist S. wieder hier, das will nicht mehr so recht. Und jetzt ist auch noch ein diffuser Brustschmerz dazu gekommen. «Im Moment ists noch nicht gefährlich», interpretiert der Arzt das EKG. Aber da seien Unregelmässigkeiten zu sehen, die der Spezialist abklären müsse. Die Blutwerte seien in Ordnung, «ausser dem Cholesterin». Und wie es denn dem Knie gehe, will der Hausarzt noch wissen, während er die Überweisung schreibt. «Nicht besonders gut, aber operieren will ich auf keinen Fall.» Der Arzt nickt bloss. Der Dame zu raten, ihr Körpergewicht in den Griff zu bekommen, ist wohl aussichtslos. Sicher ist sie eine hervorragende Köchin.

«Ich habe ein Riesenproblem». Am Samstag hat Herr T. beim Zügeln geholfen, am Sonntag war noch alles in Ordnung. Aber am Montagmorgen kribbelte es in der ganzen rechten Körperhälfte, Taubheits- und Schwächegefühl in rechtem Arm und Bein. «Ich war dann trotzdem arbeiten. Aber Dienstagmittag ging es dann nicht mehr», rapportiert T. Der Arzt unterzieht ihn einer Reihe Tests. Blutdruck ist in Ordnung. Arme bei geschlossenen Augen vorgestreckt, dasselbe liegend mit den Beinen: T’s Muskeln in den rechte Gliedmassen scheinen nicht mehr richtig zu gehorchen, geben der Schwerkraft nach. Beim Gehen mit geschlossenen Augen wird das rechte Bein leicht nachgezogen, auch das Gehen auf Zehenspitzen funktioniert nicht mehr. «Haben Sie zu schwere Gewichte gehoben, sind sie gestürzt?» T. verneint, und über den Durst getrunken habe er auch nicht übers Wochenende. Der Arzt ist ratlos. «Ich kann Ihnen nicht sagen, was Ihnen fehlt. Es scheint eine neurologische Störung in Ihrer linken Hirnhälfte vorzuliegen. Aber ich habe keine Ahnung, was es ist.» Dr. Tschudi überweist seinen Patienten als Notfall ins Universitätsspital. Ein Computertomogramm wird vielleicht zeigen, was los ist.

Die Zunge sieht aus wie vom Teigrad ausgeschnitten, ausgefranst mit Bläschen und Schrunden. Seit Montag kann Frau U. kaum mehr essen wegen der Schmerzen. «Auf den ersten Blick könnte man an eine Nahrungsmittelallergie denken», sinniert der Arzt: Die Glossitis, Entzündung der Zungenschleimhaut, kann vielerlei Ursachen haben. Aber da die Patientin kein Fieber hat, fällt eine bakterielle Infektion als Auslöser wohl weg. U hat auch weder eine Strahlenbehandlung hinter sich noch ist sie HIV-infiziert – der Hausarzt würde es wissen. Also wieder einmal abwarten, aber nicht Tee, sondern Milch trinken. Und Yoghurt essen, nur kalte Nahrung zu sich nehmen. Damit die Schmerzen erträglich sind, erhält U. noch ein eine Lösung für Mundspülungen und ein Schmerzmittel.

Ohrenweh, Kopfschmerzen, verstopfte Nase: Der Bub sitzt da wie ein Häufchen Elend. Woher es kommt, weiss V. nicht, möglicherweise eine Allergie auf Staub oder Tierhaare? Immerhin eine gute Nachricht: das Trommelfell ist intakt. Der Arzt klärt ihn auf, was Nase und Ohr verbindet, dass das Trommelfell eingezogen sei und damit das Hörvermögen vorübergehend gestört ist, wenn der Druckausgleich durch die zugeschwollene eustachische Röhre nicht funktioniert. Und dass der Arzt deshalb die Nase behandeln muss, um die Ohren zu heilen. Er empfiehlt, die verschwollenen Nasenschleimhäute durch regelmässiges Inhalieren zu beruhigen. Dann sollte sich auch der Rest wieder einrenken.

Aufregung draussen im Gang. W. liegt zusammengebrochen vor der Tür zur Praxis, einer von Dr. Otts Methadon-Patienten. Arm geschwollen in der Schlinge, offensichtlich gebrochen. Der Kopf ist verbeult und auch die Rippen scheinen etwas abbekommen zu haben. Halb bewusstlos hängt W. im Stuhl. Dr. Ott muss seinen Patienten immer wieder wachrütteln, um herauszubekommen, was überhaupt geschehen ist. Ein Unfall wie es gewesen, vor einigen Tagen. W. habe sich auf der Notfallstation notdürftig verarzten lassen. Und hatte heute Nachmittag wegen seines gebrochenen Arms einen Termin in der chirurgischen Klinik des Universitätsspitals. Aber wie es so geht in einem Fixerleben: Als W. dort eintraf, war er derart verladen, dass die Chirurgen nichts mit ihm anfangen konnten. Sie schickten ihn wieder nach Hause. Dort aber stand W. vor verschlossener Tür, weil der Vater verreist war – er wähnte seinen Sohn für einige Tage gut aufgehoben im Spital. Jetzt ist W.’s letzte Anlaufstelle eben der Hausarzt. Und da sitzt oder vielmehr liegt er jetzt. Dr. Ott hat nun – es ist inzwischen sechs Uhr – die wenig beneidenswerte Aufgabe, für seinen Schützling eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Zuerst versucht er’s nochmals bei den Chirurgen im Spital. «Nehmt ihn doch über Nacht, morgen ist er dann nüchtern und Ihr könnt ihn endlich operieren», plädiert er. Erfolglos. Dr. Ott ruft in der PUK (Psychiatrische Universitätsklinik) an. Ebenfalls umsonst. Der Patient sei offenbar polytraumatisiert, könnte innere Verletzungen haben und in der Nacht Komplikationen entwickeln, dafür sei man nicht ausgerüstet. Schliesslich gelingt es dem Arzt, die Notfallstation zu überreden, W. die Nacht über zu betreuen. «Nehmen Sie mich? Dankeschön», so W. zu den Sanitätern, die ihn abholen. Bald ist W. wieder dort, wo er vor ein paar Stunden schon einmal war, nämlich am Petersgraben Nr. 4. Und Dr. Ott kann sich nur wundern übers Berufsethos seiner Kollegen im Spital: «Man sollte eigentlich erwarten, dass auch sie in erster Linie fürs Wohl der Patienten da sind.»

Dr. Tschudi hat das Köfferchen gepackt. Zum Schluss gehts noch auf einen Hausbesuch. Kaum war die Schenkelhals-Operation überstanden, war die 91jährige in ihrer Wohnung erneut gestürzt. Diesmal aufs Steissbein. Nun kann X. ohne Schmerzen weder sitzen noch liegen. Der Arzt empfiehlt für diese spezielle Situation einen Schwimmring als Sitzkissen, verschreibt ein Schmerzmittel und Physiotherapie zu Hause und vergewissert sich, dass Vorkehren gegens Wundliegen getroffen wurden. Aber doch, versichert die Patientin nun schon beinahe munter, auch dem Bein gehe es gut – die Spitex-Hilfen und der um einiges jüngere Ehemann helfen ihr dabei. Man plaudert noch ein wenig über bessere Zeiten, von den Kindern, vom Chalet im Berner Oberland. Und wünscht sich gegenseitig eine gute Nacht.Es ist inzwischen 19 Uhr geworden.

Epilog

Das war er also, der ganz gewöhnliche Tag in der Praxis eines Hausarztes. Bloss ein einzelner in der Reihe eines langen Ärzte-Lebens. Aber insofern typisch, als dieser eine Tag, wie die vielen vorhergehenden und nachfolgenden, einen ganzen Strauss unterschiedlicher medizinischer und menschlicher Probleme gebracht hat. Gefordert waren und sind in diesem Beruf – so etwa das Fazit meiner Beobachtungen -medizinisches Fachwissen, Einfühlungsvermögen, psychologisches Geschick und gesunder Menschenverstand zu gleichen Teilen. Als Gegenleistung winkt dem Hausarzt vielleicht nicht ganz so gute Entlöhnung wie den spezialisierten Kolleginnen und Kollegen. Dafür wird es ihm aber garantiert nie langweilig werden in seinem Beruf.

Über diesen einen Tag hinaus wäre vielleicht noch zu rapportieren, dass Frau A. tatsächlich an chronisch erhöhtem Blutdruck leidet, den sie jetzt gegen ihren ursprünglichen Wunsch halt doch mit Medikamenten in den Griff bekommen muss.

Herr D. (das ist der, der mit den Händen zitterte) geht es jetzt besser, er hat eine gesündere Struktur in seinen Tagesablauf gebracht, treibt wieder Sport, isst regelmässig, gönnt sich Ruhepausen und nimmt sich mehr Zeit für die Familie.

Der Zustand von T. andererseits hat sich nach der Aufnahme in der Notfallstation noch verschlechtert, er war zeitweilig rechtseitig gelähmt, hatte Mühe beim Sprechen und mit dem Gedächtnis. Das Computertomogramm hat Spuren vieler kleiner Infarkte im Gehirn entdeckt. Momentan unterzieht sich Herr T. einer Neuro-Rehabilitation.

Ja, und der drogenkranke W., der vor der Praxistür zusammengebrochen war, wurde nach zwei Nächten in der Notfallklinik mit eingegipstem Arm entlassen. Vor ein paar Tagen ist er wieder in der Praxis erschienen, diesmal mit einer schweren und sehr schmerzhaften Thrombose im verletzten Arm. W. wird wohl Dauerkunde der Gruppenpraxis bleiben.

Wie man Hausarzt wird

B. studiert Medizin im 7. Semester und arbeitet heute Vormittag ihren 17. halben Tag in der Hausarzt-Praxis. Einzel-Tutoriat nennt sich diese relativ neue und in der Schweiz und Europa einzigartige Form der Ausbildung. Seit 1997 sind alle in Basel Medizin Studierenden verpflichtet, im dritten und vierten Studienjahr einen halben Tag pro Woche den direkten Kontakt mit Patienten zu üben. «Mit den Patienten ins Gespräch kommen, herausfinden, wo der Schuh wirklich drückt, Untersuchungstechniken lernen und üben, die Angst überwinden: das alles kann man als angehender Arzt nicht früh genug lernen», ist Dr. T. überzeugt. Bei ihm und einem Netzwerk von weiteren 250 Ärztinnen und Ärzten in der Region Basel können Studierende die ersten Schritte in die Praxis wagen. «In einer ersten Phase schauen die jungen Leute erst einmal zu, wie ich es mache. Dann instruiere ich und wir üben gemeinsam und schlussendlich dürfen sie im Nebenraum Patienten – sofern diese einverstanden sind – selbstständig untersuchen und eine Vermutungsdiagnose wagen. Diese und die möglichen Abklärungs- und Therapieansätze besprechen wir dann zusammen in Anwesenheit des Patienten.»

Und die Patienten? Haben die nichts dagegen, von einem «Lehrling» behandelt zu werden? B. ist noch nie auf Ablehnung gestossen. «Ich habe den Eindruck, die Patienten schätzen das», meint sie. «Denn aus der Diskussion zu Dritt erfahren und lernen auch sie eine Menge.» Auf welches medizinische Fachgebiet sich B. später einmal spezialisieren will, weiss sie noch nicht. «Ich bearbeite sie natürlich, dass sie Hausärztin wird», wirft Dr. T. ein.

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