Die Spatzen pfeifen es von den Dächern
Industrie und Gewerbe sind nicht mehr zufrieden mit dem Schulsack, den die Lehrstellen-Bewerber mitbringen. Die Leistungen in Grundfächern wie Lesen, Schreiben und Rechnen seien ungenügend, ganz zu schweigen von den Fremdsprachenkenntnissen, wird moniert. Das Problem und was zu dessen Lösung getan werden könnte, war Thema des vierten aprentas-Forums. «Ich will sicher nicht sagen, die Schulen im Wallis seien schlechter als andernorts in der Schweiz. Aber wir hatten bis Ende der obligatorischen Schulzeit nur ein Jahr Englischunterricht, und auch naturwissenschaftliche Fächer standen eher in Hintergrund»: In unverkennbarem Walliserdeutsch schildert der angehende Biologielaborant Pascal die Hürden, die er beim Übergang von der staatlichen in die Berufsschule überwinden musste. Geschafft hat er’s dann aus eigener Initiative, indem er englisch privat nachbüffelte.
David, Chemielaborant im ersten Lehrjahr, hat Probleme anderer Art. Er verliess die Schule in Möhlin nach einer Abschlussprüfung und fühlte sich anfänglich unterfordert, da vieles bloss Repetition war. Ähnlich erging es Silvan aus Muri in den Fächern Mathematik, Französisch und Englisch, «da haben wir halt manchmal ein bisschen Seich gemacht in den Stunden». Eher schlecht vorbereitet für die Berufsschule fühlten sich dagegen Carmen und Andrea aus Olten respektive Wettingen: Die beiden angehenden Biologielaborantinnen «schwimmen» jetzt in den naturwissenschaftlichen Fächern. Ein spezielles Problem hat Korab. Er hat verlernt zu lernen, hing ein halbes Jahr durch, weil er an der WBK Diegten keine Abschlussprüfung machen musste und die Lehrstelle als Chemikant eh schon im Sack hatte.
Eindrücklicher als mit dieser von Nationalrätin Pascale Bruderer subtil moderierten Gesprächsrunde mit den Auszubildenden hätte die Problematik wohl nicht dargestellt werden können: Unter dem Motto «Schnittstelle Schule-Beruf» stand vergangene Woche in Basel das vierte Aprentas-Forum. Dies auf dem Hintergrund der beunruhigenden Resultate, die das Nationale Forschungsprogramm NFP43 «Bildung und Beschäftigung» geliefert hat. Darin kommt Urs Moser vom Kompetenzzentrum für Bildungsevaluation und Leistungsmessung der Universität Zürich aufgrund von 1420 Eignungstests zum Schluss, dass nach dem 9. Schuljahr eigentlich nur Gymnasiastinnen und Gymnasiasten den Anforderungen genügen, die in einer anspruchsvollen Lehre vorausgesetzt werden. Ein Sekundar- oder Realschulabschluss biete noch zu 50 respektive 30 Prozent Erfolgschance. Und auch unter denjenigen, die als Lehrling akzeptiert wurden, könne bloss eine Minderheit die Berufsschule ohne Probleme durchlaufen. «Es besteht ein Graben zwischen der obligatorischen Schulbildung und dem Berufsbildungssystem», konstatiert Urs Moser.
Da konnten die beiden Lehrpersonen, die am Aprentas-Forum über ihre Erfahrungen berichteten, nur beipflichten. «Die Unterschiede sind enorm», erzählte Beatrice Trutmann. Sie unterrichtet Französisch und Englisch und «wäre schon froh, wenn wir bei Lehrantritt vom in den europäischen Richtlinien definierten Minimal-Niveau ausgehen könnten». Ins gleiche Horn stösst Karl Fischer, bei Aprentas für den Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften zuständig. «Es ist verheerend. Da will man etwas erklären und scheitert schon daran, dass die jungen Leute den Dreisatz nicht beherrschen.» Beide bestätigen übereinstimmend, dass von den drei Jahren Ausbildungszeit bei Aprentas ein Drittel verloren geht, weil zuerst alle Schülerinnen und Schüler aufs gleiche Niveau gebracht werden müssen. Auf die Gefahr hin, dass dann viele Lehrlinge unterfordert sind – siehe oben.
Damit war das Thema Auswahlverfahren angesprochen. Wie wählt man unter Tausenden Bewerbungen die wenigen fähigen Kandidatinnen und Kandidaten aus? «Zeugnisse bringen es überhaupt nicht, da erlebt man die verrücktesten Sachen», weiss Karl Fischer. Unter anderem, weil die Beurteilungskriterien nicht nur von Kanton zu Kanton, «sondern sogar von Schulhaus zu Schulhaus und Lehrer zu Lehrer stark abweichen». Aprentas ist daher wie viele Industriebetriebe dazu übergegangen, mit eigenen Tests die Geeigneten auszuwählen. Dies wiederum zum Missfallen der Bildungsverantwortlichen in Kantonen und Gemeinden. Denn damit werden die schuleigenen Abschlussprüfungen entwertet: Weshalb soll sich ein Jugendlicher in der Schule noch anstrengen, wenn ja doch bloss die Aufnahmeprüfung beim künftigen Lehrmeister zählt?
Wie es denn anders gehandhabt werden könnte, darum drehte sich am Aprentas-Forum die Diskussion. Die für Lehrmeister einfachste und Auszubildende fairste Lösung wäre sicher, wenn Abschlusszeugnisse nach dem 9. Schuljahr schweizweit vergleichbar wären und einen verlässlichen Eindruck über Wissensstand und Fähigkeiten der jungen Absolventen geben könnten. Dies würde voraussetzen, dass für den Bereich der obligatorischen Schulzeit einheitliche und landesweit gültige Leistungs-Standards definiert werden. Nur: Wer definiert solche Kriterien in einem Land, wo die Schulhoheit bei den 26 Kantonen liegt? Und birgt eine solche Gleichschaltung nicht auch die Gefahr des Kulturverlusts: Ein extremes Beispiel wurde im Verlauf des Forums angeführt: Der Geschichtsunterricht im Tessin kann sicher nicht dieselben Inhalte haben wie beispielsweise in Basel.
Das will auch niemand. Wie es gemacht werden könnte umschrieb der St.Galler Regierungsrat und EDK-Präsident Hans Ulrich Stöckling anhand des Projekts «Harmos», das innerhalb der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren zwecks Harmonisierung der obligatorischen Schule angeschoben worden ist. Dieses ist auf die gesamtschweizerische Festlegung von Kompetenzniveaus in Fachbereichen wie Erstsprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften fokussiert. So soll festgelegt werden, welches Kompetenzniveau etwa im 2., 6. und 9. Schuljahr von den Jugendlichen erwartet wird. Dabei soll es sich um Minimal-Standards handeln, die den einzelnen Kantonen, Schulen und Lehrpersonen die Freiheit lassen, darauf aufbauend kreativ zu sein und auch mehr zu bieten.
In die Lehrpläne dreinreden will die EDK also bewusst nicht. Das sei auch unnötig, hatte ja Aprentas-Lehrer Karl Fischer zuvor schon festgestellt: «Wir brauchen keine neuen Lehrpläne. Es sollte bloss dafür gesorgt werden, dass die jetzigen überall auch eingehalten werden.»
Ein Erfolgsrezept
Aprentas wurde vor vier Jahren als Ausbildungsverbund von Novartis, Ciba Spezialitätenchemie sowie Syngenta gegründet und zählt heute 33 Mitgliedsfirmen. Die Lehrlingsausbildung ist nach dem trialen System aufgebaut, sodass die Auszubildenden nach einer kurzen und intensiven Einführungsphase bald schon am Arbeitsplatz ihrer Firma anspruchsvolle Aufgaben übernehmen können. «Wir arbeiten aktiv mit bei der Gestaltung des neuen Berufsbildungsgesetzes, besonders was die naturwissenschaftlichen, technischen und kaufmännischen Berufe angeht», so aprentas-Präsident Johannes Randegger. Er ist natürlich stolz darauf, dass die Lehren bei aprentas in der ganzen Deutschschweiz und im südbadischen Raum derart beliebt sind. Von den mehreren hundert Bewerbern haben es 138 geschafft, bei aprentas aufgenommen zu werden. Sie werden nun zu Fachleuten fürs Chemie- und Biologielabor ausgebildet oder ihre Ausbildung als Chemikant abschliessen. Vorläufig zumindest, denn die Mehrzahl der sechs Jugendlichen, die am Forum mitdiskutierten, arbeiten auf die Berufsmatur in. Danach eröffnen sich wieder neue Möglichkeiten.
Plädoyer für Standards
«Ich bin überzeugter Befürworter von Bildungsstandards», erklärte Rolf Dubs am aprentas-Forum. Er ist seit 1969 Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität St.Gallen HSG und gilt auch in Übersee als Fachmann für Qualitätskontrolle im Bildungssektor. Ein Thema, das spätestens seit den nicht überall zur Zufriedenheit ausgefallenen Ergebnisse der Pisa-Studien in den deutschsprachigen Ländern ein heisses Eisen ist.
Verbindliche Standards könnte da nach Ansicht von Rolf Dubs Abhilfe schaffen, erstens einmal, weil deren Erarbeitung die Chance gibt, die Qualität des Unterrichts aufgrund guter wissenschaftlicher Grundlagen zu verbessern. Gleichzeitig würden so die Voraussetzungen geschaffen für die zielstrebige Förderung aller Schülerinnen und Schüler: Alle Schulen würden angeregt, anhand klarer (aber nicht einengender) Vorgaben das Beste zu erreichen. Damit läge ein System vor, das verbindliche Minimalvorgaben macht, ohne dass die Lehrfreiheit eingeengt würde oder ein übermässig hartes Kontrollsystem eingeführt werden müsste.
Und schliesslich würde laut Dubs die Definition von Bildungsstandards ermöglichen, dank landesweiten Tests Daten zu erarbeiten zur Steuerung und Gestaltung des gesamten Schulsystems. Damit könnten schulpolitische Diskussionen besser mit Fakten unterlegt werden und unnötige Polarisierung vermieden werden.
Und die «Produktionsbedingungen»?
Wer nun erwartet hatte, Beat W. Zemp, der am aprentas-Forum als Zentralpräsident den Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer vertrat, werde auf die Barrikaden steigen gegen verbindliche Bildungsstandards, sah sich getäuscht. «Die Grobrichtung, nämlich die Forderung nach mehr Verbindlichkeit bei den zu erreichenden Mindestkompetenzen in der obligatorischen Schule, stösst in der Lehrerschaft auf überwiegende Zustimmung», ist er überzeugt. «Die Lehrerschaft will guten Unterricht « aber auch gute Unterrichtsbedingungen», fügte Zemp hinzu. Man könne nicht ständig auf dem «Output», der Qualität der Schulabgänger, herumreiten, ohne die «Produktionsbedingungen» in Rechnung zu stellen. Dies gelte besonders für den internationalen Vergleich im Rahmen der Pisa-Tests. «Die Schweiz liegt mit 30 Pflichtlektionen und mit sieben bis zehn zu unterrichtenden Fächern pro Primarlehrkraft ziemlich am Ende der einigermassen erfolgreichen OECD-Länder», rechnete Zemp vor. In Pisa-Spitzenländern dagegen hätten Lehrkräfte wöchentliche Pflichtpensen von durchschnittlich 20 Lektionen in gerade mal drei Fächern zu bewältigen. «So lange diese Fakten in den Pisa-Massnahmenkatalogen willentlich ausgeklammert werden, weil sie schlecht in die Sparpolitik passen, kommt in der Lehrerschaft verständlicherweise wenig Begeisterung auf für die Einrichtung von Bildungsstandards und «monitoring», warnte Beat Zemp.