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Medizin

Baby-Vorhaut hilft offene Beine heilen

In der Retorte gezüchtete Kunsthaut regt natürliche Wundheilung an

Schwer heilende Wunden sind schmerzhaft und erfordern eine aufwendige Behandlung. Diese kann jetzt dank dem Einsatz von Kunsthaut-Präparaten ohne operativen Eingriff abgekürzt werden. «Gehen wir rein, es ist alles vorbereitet» begrüsst mich Andreas Arnold in der Bettenstation der Basler Dermatologischen Universitätsklinik. Verabredet hatte ich mich mit dem Oberarzt, um bei einer speziellen Technik der Wundbehandlung zuzuschauen, die vielleicht bald schon Routine wird. Im Zimmer wartet bereits Frau M., eine betagte Patientin, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Nur die mageren Beine ragen hervor, auf dem Rist und oberhalb der Ferse des linken Fusses je eine grossflächige offene Wunde. «Wahrscheinlich die Folge eines Staus in den Beinen wegen Bewegungsmangel, die Frau verbringt die meiste Zeit des Tages in ihrem Armsessel», vermutet Andreas Arnold. Frau M. war deswegen eben erst in Behandlung und danach wieder nach Hause entlassen worden, «aber die Schmerzen waren nicht unter Kontrolle zu bringen». Und so ist die Patientin – auch wegen anderer Beschwerden – wieder in die Klinik eingewiesen worden.

Inzwischen hat der Assistenzarzt zusammen mit den Krankenschwestern die beiden offenen Geschwüre von Wundausschwitzungen gereinigt und zur weiteren Behandlung vorbereitet.«Bei solch chronischen Wunden, die von alleine nicht verheilen wollen, drängt sich eigentlich eine Hautverpflanzung auf», sagt der Dermatologe. Der Patientin würde dann beispielsweise vom Oberschenkel ein Stück Haut entnommen, das dann auf die Wunden genäht wird. «Das ist eine erprobte Technik, käme aber auf eine eigentliche Operation mit allen Risiken heraus, etwas, das wir der Patientin angesichts ihres Alters nicht zumuten mögen.» Daher will Dr. Arnold es nun mit einer Apligraf-Behandlung versuchen, mit einem in der Retorte gezüchteten Haut-Nachahmerprodukt.

Vorsichtig hebt der Dermatologe das Apligraf-Präparat aus der runden Glasschale, in der es von roter Nährlösung bedeckt aus den USA eingeflogen worden war. Das etwa sieben Zentimeter messende filigrane Gewebe sieht aus wie ein Stück Haut. Tatsächlich wird es zweischichtig aus lebenden Zellen herangezüchtet. Die Vorhaut Neugeborener dient als Ausgangsstoff für die obere, epidermale Schicht, «das sind sehr junge Hautzellen, die sich gut vermehren lassen», sagt Andreas Arnold. So wird aus einem Stückchen Babyhaut Apligraf-Präparat von der Fläche eines Fussballfeldes gewonnen. Für die untere, dermale Schicht stehen Rinderzellen Pate. Erstaunlicherweise und zum Glück für Patient und Arzt hat sich dieses Konstrukt eine Eigenschaft natürlicher Haut bewahrt: Die beiden Zellschichten produzieren gemeinsam weiterhin für die Wundheilung wichtige Substanzen, darunter auch Wachstumsfaktoren.

«Diesen Substanzen ist der Heileffekt zu verdanken», erklärt Andreas Arnold. Das Apligraf-Präparat selber wachse nur sehr selten an, weil es vom Immunsystem als fremd erkannt und abgestossen wird. «Das dauert in der Regel etwa zwei Wochen, und in dieser Zeit können die Zellen der Zuchthaut die Wunde derart umstrukturieren, dass der Selbstheilungsprozess ausgelöst wird.» Wundheilung sei ein überaus komplizierter Vorgang, «über den wir noch sehr wenig wissen und an dem viele Stoffe beteiligt sind». All diese heilenden Substanzen einzeln und in der richtigen zeitlichen Reihenfolge auf eine Wunde aufzutragen, wäre gar nicht möglich. «Diese Aufgabe kann eben Apligraf übernehmen, gleichsam als Heilmittel-Dispenser.»

Inzwischen hat Dr. Arnold das Apligraf-Präparat in physiologischer Kochsalzlösung gewaschen und mit dem Skalpell regelrecht durchlöchert, damit die Wirkstoffe danach besser in die Wunde eindringen können. Die Kunsthaut ist recht schlüpfrig und nicht einfach auf die Wunde zu übertragen. Andreas Arnold balanciert sie geschickt auf zwei Wattestäbchen: «Bloss nicht runterfallen lassen», redet er sich gut zu, sonst wären 1500 Dollar – buchstäblich – im Eimer. Aber die Aktion glückt, und nach ein paar Minuten ist das Geschwür auf dem Rist sauber abgedeckt. Das Apligraf-Präparat wird mit Klebband fixiert und mit einer durchsichtigen Schutzfolie versehen, durch die der weitere Verlauf kontrolliert werden kann. Nachdem die Wunde oberhalb der Ferse auf gleiche Weise versorgt wurde, wird ein gewöhnlicher Mullverband angelegt. Das Ganze dauerte keine halbe Stunde und verlief für Frau M. völlig schmerzlos.

Aber noch ist der Weg zur Heilung lang. «Man darf sich nicht vorstellen, dass die Wunde bereits mit Haut bedeckt ist, wenn wir die Schutzfolie in zwei Wochen entfernen», relativiert Andreas Arnold übertriebene Hoffnungen. «Denn dann erst beginnt der eigentliche Heilungsprozess, dann ist die Wunde erst in der Lage, sich aus eigener Kraft zu schliessen.» Wäre das nicht auch ohne die teure Apligraf-Anwendung früher oder später der Fall? «Vielleicht schon», räumt Dr. Arnold ein. «Aber es würde sicher länger dauern und auch kostenmässig mit Aufwand verbunden sein, denn die herkömmliche Wundbehandlung ist ebenfalls teuer.» Im übrigen sei zu bedenken, dass nur schon eine Verkürzung des Spitalaufenthaltes um ein oder zwei Tage die Kosten einer Apligraf-Behandlung wett mache. Frau M. beispielsweise könnte aus der Sicht des Dermatologen das Spital bereits heute wieder verlassen, wären da nicht die übrigen Beschwerden.

Krankenkassen übernehmen die Kosten

Apligraf wird von der Firma Organogenesis in den USA hergestellt und ist dort bereits vor zehn Jahren von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen worden. Laut Medienmitteilung der Firma wurde die Zelltherapie aus lebenden menschlichen Hautzellen bis jetzt weltweit bei mehr als 240 000 Patienten eingesetzt zur Behandlung von chronischen Wunden. Ursache solcher Wunden sind etwa Blutgefässerkrankungen, andauernde Druckeinwirkungen oder Zuckerkrankheit (Diabetes). Besonders chronische und entzündliche Diabetes-Geschwüre an den Beinen belasten das Gesundheitssystem enorm und machen oft längere Spitalaufenthalte notwendig. Zudem müssen allein in der Schweiz jährlich 1000 Diabetikerfüsse amputiert werden. Diese Zahlen könnten nach Auffassung von Dermatologen und Wundheil-Spezialisten mit dem Einsatz von Apligraf drastisch reduziert werden. Seit vergangenem August wird die Apligraf-Behandlung in der Schweiz denn auch von den Krankenkassen übernommen.

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