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Gesundheitspolitik

Kinder schlucken oft bittere Pillen

Kinder sind die «Waisenkinder der Medizin». Denn für ihre medikamentöse Behandlung stehen meist nur Arzneimittel zur Verfügung, die ausschliesslich an Erwachsenen getestet und für gut befunden worden sind. Die Zulassungsbehörden wollen dies ändern. Aber auch Pharmafirmen haben inzwischen Eigeninitiative entwickelt. Die Situation ist eigentlich absurd: Etwa 40 Prozent der von der Weltgesundheitsorganisation für die Behandlung von Kindern empfohlenen Medikamente sind eigentlich nicht für kleine Patienten bestimmt. Zumindest warnen die Hersteller auf den Beipackzetteln oft ausdrücklich vor dem Einsatz bei Kindern. Nicht etwa, weil die Arzneien tatsächlich gefährlich wären. Aber die Situation ist nun mal so, dass nur sehr wenige Medikamente das gestrenge Prozedere durchlaufen haben, das Voraussetzung ist, um von den Behörden offiziell die Zulassung als Kinder-Arzneimittel zu erhalten. Daher sichern sich die Pharmaproduzenten vorsichtshalber rechtlich ab. Abgegeben werden die betreffenden Medikamente von den Ärzten aber gleichwohl an Kinder, ganz einfach, weil es allzu oft keine Alternative gibt.

Nur zehn Prozent zugelassen

«Besonders extrem ist die Situation bei den Neugeborenen», sagt Prof. Georg A. Holländer, Leiter Forschung am Universitäts-Kinderspital Beider Basel (UKBB). «In der Neonatologie sind bloss etwa zehn Prozent der eingesetzten Medikamente vorschriftsgemäss an Babys getestet und offiziell zugelassen worden.» Eine ungemütliche Situation für die Ärzte, die solche Medikamente ‹off label›, ausserhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs abgeben: Sie tun dies nämlich in eigener Verantwortung, das Kind wird – für alle Beteiligten unwillentlich – zur Versuchsperson, und wenn dann etwa schief geht … Die Zulassungsbehörden haben das Problem erkannt und versuchen die Pharmahersteller dazu zu bewegen, ihre Präparate von Anfang an vermehrt auch auf die Eignung zur Behandlung von Kindern zu überprüfen. Eine Vorreiter-Rolle spielt da Japan. Aber auch in Europa werden Pharmafirmen seit dem vergangenen Jahr verpflichtet, bereits bei der Entwicklung neuer Medikamente an die Kinder zu denken und zu überlegen, ob das Arzneimittel für die Anwendung im pädiatrischen Bereich geeignet sein könnte. Im Fall etwa eines Brustkrebs-Mittels ist die Frage wohl zu verneinen, aber in vielen Fällen muss der europäischen Arzneimittelbehörde EMEA neuerdings zusammen mit dem Zulassungsantrag auch ein «pädiatrisches Prüfkonzept» eingereicht werden, mit dem das Unternehmen darlegt, wie es die «Kindertauglichkeit» des neuen Präparates abklären will.

Nicht bloss kleine Erwachsene

Einfach ist dies nicht, denn Kinder sind nicht bloss kleine Erwachsene. Vielmehr unterscheiden sich Stoffwechsel und Immunsystem je nach Alter (vgl. Box) grundlegend von denjenigen der Erwachsenen. Somit müssten eigentlich die Arzneimittel in den unterschiedlichen Altersgruppen vom Frühgeborenen bis zum Adoleszenten separat geprüft werden. Das wäre sehr aufwendig, und die Kosten würden wohl in vielen Anwendungsbereichen die zu erwartenden Einnahmen übersteigen – schliesslich zählen ja Kinder und Jugendliche eher zum gesunden Segment der Alterspyramide.

Und wo trotz ungewissem wirtschaftlichem Nutzen eine pädiatrische Studie aufgegleist wird, werden sicher auch die zuständigen Ethikkommissionen ein Wort mitreden wollen. «Medizinische Forschung darf das Kind nicht aussparen, weil gesicherte Daten für die pädiatrische Medizin unerlässlich, aus Daten von Erwachsenen aber nicht zuverlässig ableitbar sind», schreibt zwar Prof. Christoph Rehmann-Sutter im «Bioethica Forum» vom vergangenen Juni. Fügt aber gleich hinzu, dass die Forschungsethik Kinder zur Kategorie der «besonders schutzbedürftigen Versuchspersonen» zählt. Und stellt folgerichtig die Frage, ob dieser besondere Schutz mit Forschung überhaupt vereinbar ist: «Darf man mit Kindern forschen, ausser wenn das Forschungsziel in ihrem direkten, eigenen Interesse liegt?»

Auf Erfahrung vertrauen

Dazu hat Prof. Holländer eine klare Meinung. «Zwischen Fremd- und Eigennützigkeit ist in der Pädiatrie nicht sinnvoll zu unterscheiden», sagt er. Auf der anderen Seite hält er es aber auch nicht für realistisch, in der Kinderklinik die im Rahmen von Medikamenten-Zulassungsverfahren üblichen Placebo-kontrollierten Doppelblindstudien durchzuführen, falls bereits ein wirksames Medikament zur Verfügung steht. «Das ist unethisch und unrealistisch, Eltern würden ihre Kinder niemals teilhaben lassen an solchen Studien und in Kauf nehmen, dass ihrem Nachwuchs unter Umständen eine wirkungslose Kontrollsubstanz eingegeben wird.»

Als Alternative sähe Prof. Holländer die Einrichtung eines pädiatrischen Pharmakologie-Instituts in der Schweiz. Dort könnten die Bedingungen zur Anpassung von Therapieempfehlungen an kindliche Massstäbe erforscht werden. Dort könnten aber auch die behördlichen Konditionen festgelegt werden und der Pharmabranche die Informationen bereitgestellt werden, die sie für die Einreichung eines Zulassungsgesuchs benötigen. «In den USA wird dies schon in einigen medizinischen Zentren so gehandhabt.»

Prof. Christoph Bührer, der Leiter der Neugeborenen-Medizin (Neonatologie) am UKBB bezweifelt allerdings, dass solche kinderpharmakologische Institute allein die Lösung sein könnten, weil die Durchführung grosser placebo-kontrollierter Studien deren finanzielle Möglichkeiten übersteigen würde. «Der mögliche kommerzielle Nutzen einer Zulassung ist in der Regel derart gering, dass solche Studien von der Industrie nicht gesponsert werden.» Die Initiative gehe daher meist von den Forschern selber aus. Wobei fairerweise auch zu erwähnen sei, dass Ethikkommissionen und Bürokratie der schweizerischen Zulassungsbehörden «forschungswilligen Firmen die Untersuchungen mit Kindern oft derart vergällen, dass die Industrie vor solchen Studien zurückschreckt», meint Prof. Bührer

Aber früher oder später wäre auch ein neutrales pädiatrisches Pharmakologie-Institut auf die Mitwirkung von – in diesem Fall – minderjährigen Probanden angewiesen. «Das bleibt eine Gratwanderung», weiss Prof. Holländer. Er würde im Moment das Problem in dem Sinn lösen, dass man «die Medikamente, die wir Kinderärzte weltweit schon lange ‹off label› gebrauchen, und die sich als wirksam und sicher erwiesen haben, jetzt offiziell zulässt für den Einsatz bei Kindern. Es hat ja keinen Sinn, plötzlich klinische Studien zu organisieren zur Wirksamkeit und Sicherheit etwa von Aspirin bei Kindern.»

Was sich in der Industrie tut

Ein Beispiel, wie pädiatrische Forschung in der Praxis organisiert werden könnte, liefert das Grippemittel Tamiflu. Es ist wohl unbestritten, dass Kleinkinder wegen ihres noch wenig ausgebildeten Immunsystems bei Ausbruch einer Grippe-Pandemie besonders gefährdet sind. Doch wie kann man diese Altersgruppe medikamentös vor dem Grippevirus schützen, ohne grössere Risiken einzugehen? Zur Beantwortung dieser Frage arbeitet Tamiflu-Herstellerin Hoffman-la Roche gemeinsam mit dem NIH, dem amerikanischen Zentrum für Gesundheitsforschung, an Studien, um mehr zu erfahren über die Möglichkeit und Sicherheit des Tamiflu-Einsatzes bei unter einjährigen Kindern. Laut Roche-Sprecherin Martina Rupp wird im gleichen Rahmen auch die prophylaktische Anwendung sowie die Langzeitsicherheit in dieser Population erforscht. Und schliesslich wird auf ganz praktischer Ebene abgeklärt, ob es nicht von Vorteil wäre, die Kapseln zu öffnen und Kleinkindern, die ja Kapseln schwerlich schlucken können, den Wirkstoff zusammen mit der Nahrung einzugeben.

Auch der monoklonale Antikörper Actemra, für den die Roche-Tochter Chugai vergangenen April in Japan die Zulassung erhielt zur Behandlung von rheumatoider Arthritis bei Erwachsenen, soll auf seine Eignung zum Einsatz bei Kindern getestet werden. «In Japan ist das Medikament für diesen Zweck bereits zugelassen, nämlich zum Einsatz gegen zwei schwere Formen der idiopathischen Arthritis, deren Ursache letztlich noch unbekannt ist», sagt Don Maclean, der Life Cycle Leader für Actemra. «Das ist eine seltene, aber sehr schwere Erkrankung, und je frühere man mit der Behandlung beginnt, desto eher können Gelenke vor Dauerschäden geschützt werden.» Dies könne mit Actemra erreicht werden, daher sei das Interesse der Ärzteschaft an dieser Anwendung auch ausserhalb Japans sehr gross. «Wir starten deshalb jetzt eine globale Studie an 150 zwei- bis zwölfjährigen Kindern, um Wirksamkeit und Sicherheit von Actemra auch bei Nicht-Japanern nachzuweisen.»

Wirtschaftlicher Anreiz

Tamiflu und Actemra sind allerdings Ausnahmefälle, denn beide Medikamente gelten als Juwelen in der Roche-Pharmapalette, in die sich weiter zu investieren schon aus finanziellen Gründen allemal lohnt. Inzwischen ist auch die EMEA zum Schluss gekommen, dass wirtschaftliche Anreize wohl der effizienteste Weg ist, um Pharma-Hersteller dazu zu bringen, in pädiatrische Studien zu investieren. Denn erbringt das erwähnte mit dem Zulassungsantrag einzureichende «pädiatrische Prüfkonzept» hinterher den Nachweis, dass das neue Medikament tatsächlich geeignet ist zur Anwendung bei Kindern, erhält der Hersteller eine sechsmonatige Verlängerung der Patentlaufzeit. Dieselbe Prämie winkt übrigens, wenn der Nachweis erbracht wird, dass das Medikament für den Einsatz in der Pädiatrie ungeeignet ist. Macht diese Regel Schule, könnten schlussendlich alle gewinnen, die Forschung, die Pharmahersteller, die Bewilligungsbehörden, die Ärzte – und nicht zuletzt die Kinder.

Box: Kind ist nicht gleich Kind

Die europäische Arzneimittelbehörde EMEA unterscheidet bei Kindern fünf Altersgruppen: 1. Vor der 36. Schwangerschaftswoche geborene «Frühchen», 2. Neugeborene bis zum 27. Lebenstag, 3. Säuglinge bis zum 23. Lebensmonat, 4. Kinder von zwei bis elf Jahren und schliesslich 5. Heranwachsende von 12 bis 17 Jahren.

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