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Die Zukunft gehört den Berichten aus der Praxis

Klinische Studien sagen zu wenig aus über Wirksamkeit und Sicherheit eines neuen Medikaments

Die europäische Arzneimittelbehörde EMEA forderts in ihren Richtlinien, bei Swissmedic wird’s diskutiert und Bayer Schering Pharma tuts bereits: Wie vergangenen Dezember am MediApéro berichtet wurde, hat die Firma bereits 254 Beobachtungsstudien durchgeführt, mit denen Wirkung und Sicherheit von 28 Medikamenten in der ärztlichen Praxis untersucht wurden. Ein Arzneistoff hat eine lange Prüfstrecke hinter sich, bevor er die Zulassung erhält. Er ist in klinischen Studien an Tausenden Testpersonen auf Wirksamkeit und Verträglichkeit überprüft worden. Gleichwohl ist man vor bösen Überraschungen nicht gefeit, wie etwa das Beispiel Vioxx zeigt.

Nicht repräsentativ

Das liegt einmal an der Auslegung der klinischen Studien. Um den Effekt eines neuen Medikaments möglichst genau und ohne störende Einflüsse darstellen zu können, werden die Testpersonen sorgfältig ausgewählt. Kinder, Schwangere sowie an mehreren Gebrechen leidende und dazu womöglich ältere Menschen scheiden als Probanden schon mal aus. «Damit ist das Probanden-Kollektiv nicht repräsentativ für die Patienten aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten, die im allgemeinen eine Arztpraxis aufsuchen», hielt Medical Director Harald Landen vergangenen Dezember am MediApéro fest, zu dem Bayer Schering Pharma nach Zürich eingeladen hatte.

Hinzu kommt ein quantitatives Problem: Tests an mehreren tausend Versuchspersonen – das erscheint zwar auf den ersten Blick als grosse Zahl. Doch können seltene unerwünschte Wirkungen eines Arzneimittel-Kandidaten auf diesem Weg nicht entdeckt werden.

Probandenzahl zu niedrig

Ein bisschen Statistik: Um eine unerwünschte Wirkung, die theoretisch bei jedem 10 000sten Patienten auftreten kann, mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit ein einziges Mal beobachten zu können, müssen 30 000 Menschen mit dem betreffenden Medikament behandelt werden. Umgekehrt bedeutet dies, dass mit wachsender Zahl behandelter Patienten auch die Zahl der auftretenden unerwünschten Wirkungen steigt.

Meldung obligatorisch

Pharmaindustrie und Bewilligungsbehörden sind sich dieser Problematik bewusst. Deshalb wurden in den meisten Ländern so genannte Pharmakovigilanz-Systeme etabliert, um die Zwischenfälle zu erkennen, mit denen bei der breiten Anwendung eines neu zugelassenen Arzneimittels nun einmal zu rechnen ist. In der Schweiz verlässt man sich hauptsächlich auf das Meldesystem. «Seit 2002 verpflichtet das neue Heilmittelgesetz die Ärzte und Apotheker, sämtliche im Zusammenhang mit der Einnahme eines Medikaments beobachteten Unregelmässigkeiten uns zu melden», sagt Petra Doerr vom Schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic.

Aber genügt dies? Dieses Spontanmeldesystem hat zwar den Vorteil, das gesamte Arzneimittelspektrum in sämtlichen Personengruppen der Bevölkerung dauernd abzudecken. Hingegen wendet auch Harals Landen ein, die Melderate von Verdachtsfällen seizu gering, weil die unerwünschten Wirkungen entweder nicht erkannt oder als bereits bekannt vorausgesetzt werden. Oder der Arzt mag sich die Zeit nicht nehmen, wegen einer vielleicht banalen Beobachtung noch ein Formular mehr auszufüllen.

Hohe Dunkelziffer

Petra Doerr ist sich der Schwachpunkte des Spontan-Meldesystems bewusst und schätzt, dass der Swissmedic «bloss etwa 10 bis 20 Prozent der Zwischenfälle gemeldet werden». Andererseits weist sie darauf hin, dass die Gesamtzahl der Meldungen über unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln im 2006 gegenüber dem Vorjahr von 3313 auf 3902, also um 18 Prozent, angestiegen ist. «550 Meldungen pro Million Einwohner lassen sich im internationalen Vergleich sehen, die Schweiz belegt damit weltweit den Rang sechs», so Petra Doerr. Die Spontanmeldungen haben die Swissmedic veranlasst, 123 Abklärungen vorzunehmen mit dem Resultat, dass in Einzelfällen neue Warnhinweise auf den Beipackzetteln aufgeführt werden mussten.

Beobachtungsstudien gefordert

Einen Schritt weiter geht die Richtlinie der europäischen Arzneimittelagentur EMEA vom Jahr 2001. Sie möchte die Medikamentensicherheit mittels Beobachtungs-Studien in den Arztpraxen verbessern. Dabei bestimmt nicht ein Versuchsprotokoll, sondern der praktische Alltag, welcher Patient welches Arzneimittel erhält. Mit andern Worten: Der Arzt und die Ärztin tun, was sie ohnehin vorhaben und protokollieren ihre Beobachtungen. Dieses Vorgehen hat laut Harald Landen mehrere Vorteile: Die Patientenzahl für die Datenauswertung ist hoch, ermöglicht daher das Erkennen auch von seltenen Neben- sowie Wechelwirkungen, und die Wirksamkeit des Medikaments wird unter Alltagsbedingungen getestet.

Bayer tuts bereits

Etwa die Firma Bayer Schering Pharma veranlasst seit 1996 solche Beobachtungsstudien, wie am MediApéro ausgeführt wurde. Gemäss Harald Landen wurden mit dieser Methode in 71 Ländern bereits 28 Arzneimittel an 430 000 Patienten auf ihre Praxistauglichkeit überprüft. Die über 98 000 Ärzte, die bei den Programmen mitwirkten, seien für ihren Arbeitsaufwand zwar entschädigt worden. Trotzdem beanspruchen diese Beobachtungsstudien bloss einen Bruchteil des Forschungs- und Entwicklungsbudgets und «sollten eigentlich von jeder Pharmafirma obligatorisch durchgeführt werden müssen».

Bei Swissmedic in Diskussion

Solche Beobachtungsstudien oder Praxis-Erfahrungsberichte stehen auch bei Swissmedic zur Diskussion, ist von Petra Doerr zu erfahren. Im Rahmen der laufenden Neuorganisation würden mehrere Mitarbeitende in der Abteilung Arzneimittelsicherheit für das Risikomanagement frei gestellt. Aufgrund von internationalen Richtlinien seien praxisnahe Prüfverfahren «im Begriff der Umsetzung. Aber so etwas kann man nicht von heute auf morgen realisieren».

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