Mit Beobachtungsstudien in den Arztpraxen soll die Arzneimittel-Sicherheit verbessert werden
Erst mit der Behandlung einer grossen Zahl ganz «gewöhnlicher» Patienten zeigt sich, was ein neues Medikament wirklich taugt. Die europäische Arzneimittelagentur fordert daher, die Sicherheit von Heilmitteln nach deren Zulassung mittels Beobachtungs-Studien in Arztpraxen zu überwachen. «Primum non nocere» – in erster Linie keinen Schaden anrichten: Dieser Leitsatz, vom Leibarzt des römischen Kaisers Tiberius Claudius erstmals ausgegeben, gilt auch für die Abgabe von Medikamenten. Allerdings mit Abstrichen: Da kaum ein Arzneimittel – ob natürlichen Ursprungs oder chemisch synthetisiert – frei von möglicherweise schädlichen Nebenwirkungen ist, gilt es von Fall zu Fall zwischen Nutzen und Risiko abzuwägen.Heute muss jede Substanz einen wahren Hürdenlauf überstehen, bevor sie als Arzneimittel auf den Markt gelangt. Von 7,5 Millionen an sich interessanten Wirkstoffen schaffen erfahrungsgemäss nach 15 Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeit nur ein bis zwei Produkte die Zulassung als Medikament.
Klinische Studien genügen nicht
Ein Arzneistoff hat also eine lange Prüfstrecke hinter sich, bevor er den behördlichen Segen erhält und vermarktet werden darf. Er ist an Tausenden Testpersonen auf Wirksamkeit und Verträglichkeit abgeklopft worden. Gleichwohl ist man nicht vor bösen Überraschungen gefeit. Das liegt einmal in der Art der klinischen Studien, die als Bedingung für die Zulassung durchgeführt werden müssen. Um den Effekt eines neuen Medikaments möglichst genau und ohne störende Einflüsse darstellen zu können, werden die Testpersonen sorgfältig ausgewählt. Kinder, Schwangere sowie an mehreren Gebrechen leidende und dazu womöglich ältere Menschen scheiden als Versuchspersonen schon mal aus. Damit ist das Probanden-Kollektiv nicht repräsentativ für die Patienten aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten, die im allgemeinen eine Arztpraxis aufsuchen. Hinzu kommt ein quantitatives Problem: Tests an mehreren tausend Versuchspersonen – das tönt zwar nach einer grossen Zahl. Doch können seltene unerwünschte Wirkungen eines Arzneimittels aus statistischen Gründen nur beobachtet werden, wenn Hunderttausende mit dem betreffenden Medikament behandelt werden. Daher kommt es immer wieder zum Rückzug von bereits zugelassenen Medikamenten, prominentes Beispiel ist etwa das Schmerzmittel Vioxx.
Zur Meldung verpflichtet
Pharmaindustrie und Bewilligungsbehörden sind sich dieser Problematik bewusst. Deshalb wurden in den meisten Ländern so genannte Pharmakovigilanz-Systeme etabliert, um die Zwischenfälle zu erfassen, mit denen bei der breiten Anwendung eines neu zugelassenen Arzneimittels nun einmal zu rechnen ist. In der Schweiz verlässt man sich hauptsächlich auf das Meldesystem. «Seit 2002 verpflichtet das neue Heilmittelgesetz die Ärzte und Apotheker, uns sämtliche im Zusammenhang mit der Einnahme eines Medikaments beobachteten Unregelmässigkeiten zu melden», sagt Petra Doerr vom Schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic. Aber genügt dies? Dieses Spontanmeldesystem hat zwar den Vorteil, das gesamte Arzneimittelspektrum in sämtlichen Personengruppen der Bevölkerung dauernd abzudecken. Hingegen wenden Kritiker ein, die Melderate von Verdachtsfällen sei zu gering, weil die unerwünschten Wirkungen entweder nicht erkannt oder als bereits bekannt vorausgesetzt werden. Oder weil der Arzt sich die Zeit nicht nehmen mag, wegen einer vielleicht banalen Beobachtung noch ein Formular mehr auszufüllen. Petra Doerr ist sich der Schwachpunkte des Spontan-Meldesystems bewusst und schätzt, dass der Swissmedic «bloss etwa 10 bis 20 Prozent der Zwischenfälle gemeldet werden». Andererseits weist sie darauf hin, dass die Gesamtzahl der Meldungen über unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln im 2006 gegenüber dem Vorjahr um 18 Prozent auf 3902 angestiegen ist. «550 Meldungen pro Million Einwohner lassen sich im internationalen Vergleich sehen, die Schweiz belegt damit weltweit den Rang sechs», so Petra Doerr. Die Spontanmeldungen haben die Swissmedic veranlasst, 123 Abklärungen vorzunehmen mit dem Resultat, dass in Einzelfällen neue Warnhinweise auf den Beipackzetteln aufgeführt werden mussten.
Im Alltag testen
Einen Schritt weiter geht die Richtlinie der europäischen Arzneimittelagentur EMEA vom Jahr 2001. Sie möchte die Medikamentensicherheit mittels systematisch organisierten Beobachtungs-Studien in den Arztpraxen verbessern. Dabei bestimmt nicht ein Versuchsprotokoll, sondern der praktische Alltag, welcher Patient welches Arzneimittel erhält. Mit andern Worten: Der Arzt und die Ärztin tun, was sie ohnehin vorhaben und protokollieren ihre Beobachtungen. Dieses Vorgehen hat mehrere Vorteile: Die Patientenzahl für die Datenauswertung ist hoch, ermöglicht daher das Erkennen auch von seltenen Nebenwirkungen und die Wirksamkeit der Medikament wird unter Alltagsbedingungen getestet. Etwa die Firma Bayer Schering Pharma führt seit 1996 solche Beobachtungsstudien durch, wie kürzlich vor den Medien ausgeführt wurde. Laut dem medizinischen Direktor Harald Landen wurden mit dieser Methode in 71 Ländern bereits 28 Arzneimittel an 430 000 Patienten auf ihre Praxistauglichkeit untersucht. Die über 98 000 Ärzte, die bei den Programmen mitwirkten, seien für ihren Arbeitsaufwand zwar entschädigt worden. Trotzdem beanspruchen diese Beobachtungsstudien laut Harald Landen bloss einen Bruchteil des Forschungs- und Entwicklungsbudgets seiner Firma und «sollten eigentlich von jeder Pharmafirma obligatorisch durchgeführt werden müssen».
Swissmedic prüft
So weit ist es jedoch noch nicht. Die Organisation von Beobachtungsstudien oder Praxis-Erfahrungsberichten wird bei Swissmedic zwar diskutiert, ist von Petra Doerr zu erfahren. Im Rahmen der laufenden Neuorganisation würden mehrere Mitarbeitende in der Abteilung Arzneimittelsicherheit für das Risikomanagement frei gestellt. Aufgrund von internationalen Richtlinien seien praxisnahe Prüf- und Überwachungsverfahren im Stadium der Umsetzung. «Aber so etwas kann man nicht von heute auf morgen realisieren».