Pharmakogenomik
Es gibt sie zwar noch nicht, die jedem Patienten auf den Leib geschneiderten Medikamente, und es wird sie wohl auch nie geben. Doch seit der Entzifferung des menschlichen Genoms stehen der Pharmaforschung Werkzeuge zur Verfügung, die auch gesellschaftspolitische Auswirkungen haben könnten. Darüber wurde dieser Tage in Basel diskutiert. Das Phänomen ist nur zu gut bekannt, lässt den Arzt oft ratlos und Patienten leiden: Auch gut erforschte und eingeführte Medikamente bleiben bei durchschnittlich 10-25 Prozent der Patienten ohne Wirkung, bei 6,7 Prozent der Behandelten treten mehr oder weniger starke Nebenwirkungen auf, die in 0,3 Prozent der Fälle gar tödlich enden. So weit die dürre Statistik. Weshalb das so ist, darüber zerbrechen sich Fachleute die Köpfe, seit die Medizin dazu übergegangen ist, Patienten mit chemischen Wirkstoffen zu behandeln. Die Lösung des Problems bestand bis heute darin, die Arzneien einfach so oft zu wechseln, bis sich eine als wirksam erwies. Doch mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms haben die Heilmittel-Entwickler ein neues Instrument in die Hand bekommen. Ausgehend von der wohl berechtigten Annahme, dass unterschiedliche genetische Ausrüstung mindestens zum Teil verantwortlich ist für Erkrankungsrisiko wie auch individuelle Reaktion auf Medikamente, bietet sich eine neue Strategie an. Nämlich mittels Tests zunächst die genetische Disposition der Erkrankten zu ermitteln und die Therapie auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnissen auf die auszurichten. Unter dem Schlagwort «Pille nach Mass» hat der Paradigmenwechsel in der Pharmaforschung öffentliches Interesse geweckt.
Die Stiftung «Risiko-Dialog» hat nun diese Woche Gelegenheit geboten zu einem Gedankenaustausch unter Fachleuten, um auszuloten, was wirklich dran ist an dieser «personalisierten Medizin». Um es vorweg zu nehmen: Nicht viel. Und das war irgendwie beruhigend. Denn bereits hatten sich Befürchtungen geregt, Medikamente nach Mass würden einen Menschen nach Mass voraussetzen (oder zur Folge haben), den Patienten auf seine genetische Ausstattung reduzieren und das alles für den Preis einer weiteren Kostenexplosion im Gesundheitswesen.
Andrea Arz de Falco trug als Vertreterin des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) diese Bedenken in die Runde (vgl. auch Kasten «Diskussionen»). Doch schon Prof. Klaus Lindpaintner, er leitet das Roche-Zentrum für Medizinische Genomik, warnte vor übertriebenen Erwartungen. «Personalisierte Medikamente», Arzneien also, die jedem einzelnen Patienten auf den Leib geschneidert werden, gehörten ins Reich von Sciencefiction, meint er. Allenfalls ermöglichten (um beim Bild zu bleiben) die neuen Techniken, «die Konfektionsgrössen 40 und 42 durch die Nummer 41 zu ergänzen», das sei zwar noch lange kein Massanzug, aber das Ziel der Bemühungen.
Eine Evolution, keine Revolution
Lindpaintner stellte die neuen Möglichkeiten, die Pharmakogenetik und -genomik bieten, in den Zusammenhang zur Medizingeschichte und der Entwicklung von der symptom- zur ursachengesteuerten Therapie. «Das ist keine Revolution, sondern eine Evolution, die sich bereits über Jahrhunderte hinzieht.»
Bis ins 18. Jahrhundert hinein hätten Ärzte der diffusen Diagnose «Säfte-Ungleichgewicht» bloss mit Schröpfen begegnen können, erst danach begann die Suche nach greifbaren Krankheitsursachen – zuerst in Organen, dann in Gewebe, ab dem 20. Jahrhundert in Zellen. Und jetzt sei es eben – seit der Entzifferung des menschlichen Genoms – möglich, auf die molekulare Ebene von Genen und Proteinen einzuwirken, wo Krankheiten letztendlich entstehen.
Wer soll das bezahlen?
Noch unklar ist, wie dieses Eindringen in die molekulare Ebene der Krankheitsentstehung die Gesundheitskosten beeinflussen wird. «Dazu ist die Datenlage noch zu dünn», räumte der am Basler europäischen Zentrum für pharmazeutische Medizin (ECPM) tätige Gesundheitsökonom Prof. Thomas Szucs ein. Sicher könne man sich volkswirtschaftlichen Nutzen ausrechnen, wenn dank besser wirksamen Medikamenten beispielsweise die Zahl der Pflegetage im Spital weiter reduziert werden könnte. Andererseits würden die Medikamente der neuen Generation bei sinkenden Patientenzahlen wohl kaum billiger abgegeben werden können als bisher. Im Übrigen regt Thomas Szucs an, nicht ständig bloss von den Kosten zu reden, sondern auch vom Nutzen, den das Gesundheitswesen als Faktor der Volkswirtschaft bringt.
So liess einen die Diskussionsrunde etwa so klug wie zuvor nach Hause gehen. Doch wenn auch nicht viel Konkretes zurückblieb, so wars doch gut, darüber geredet zu haben.
Suche nach Nadel im Heuhaufen
Beinahe identisch ist der genetische Bauplan für alle Menschen: Zu 99,9 Prozent stimmen nicht verwandte Individuen bezüglich ihrer Erbsubstanz überein. Doch da sich letztere aus einer Sequenz rund drei Milliarden DNA-Basenpaaren («Buchstaben») zusammensetzt, ergibt der kleine Unterschied von einem Promille Abweichung die respektable Zahl von drei Millionen Stellen, an denen ein Buchstabe der Erbsubstanz individuell abweicht.
Solche aus der Reihe tanzende Basenpaare werden Snips (SNP, Single nucleotide polymorphisms) genannt. Hauptsächlich diesen Snips ist es gemäss heutigem Wissensstand zu verdanken, dass wir nicht alle gleich aussehen – und auch nicht alle gleich reagieren auf Medikamente.
Die Pharmakogenetik versucht nun unter den drei Millionen Snips diejenigen herauszupicken, welche die Aufnahme, Verarbeitung und Ausscheidung medizinischer Wirkstoffe individuell beeinflussen. Das kommt der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen gleich, da es oft mehrere Abweichungen auf verschiedenen Genen braucht, um einen sicht- oder messbaren Effekt hervorzurufen. Für den Erfolg ist Voraussetzung, dass eine möglichst grosse Anzahl Gewebeproben von Patienten, deren Krankheitsgeschichte und Lebensumstände gut dokumentiert sind, genetisch analysiert wird. Falls es dann gelingt, die gefundenen Snips oder deren Kombination mit entsprechenden individuellen Stoffwechseleigenschaften in Verbindung zu bringen, könnte dies hilfreich sein bei der Entwicklung von wirksameren Medikamenten. Von Medikamenten, die dann zugeschnitten wären für die Patientengruppe mit den entsprechenden Snip-Mustern.
Wichtig ist daran zu denken, das wurde auch an der Risiko-Dialog-Tagung immer wieder hervorgehoben, dass Gentests, welcher Art auch immer, höchstens eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins einer Disposition machen können. Und dass sowohl Patient wie Arzt weiterhin mit Unsicherheitsfaktoren leben müssen – wie bis jetzt auch schon. http://www.risiko-dialog.ch
Was zu Diskussionen Anlass gibt
Zum Thema «Massgeschneiderte Medikamente» hat das Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung (TA) eigens eine Studie durchgeführt. Darin werden Nutzen und Risiken von Pharmakogenetik (untersucht die genetischen Faktoren, die zu individuellen Reaktionen auf Medikamente führen können) und Pharmakogenomik (untersucht Auswirkungen von Medikamenten auf die Genexpression und sucht nach neuen Zielstrukturen für Wirkstoffe) gegeneinander abgewogen.
Die TA-Studie kommt zum Schluss, dass sich die Behandlungsmöglichkeiten etwa von Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Asthma in den nächsten Jahren dank Einsatz dieser neuen Methoden voraussichtlich deutlich verbessern wird. Doch warnt die Studie davor, in diesem Zusammenhang von «massgeschneiderten Medikamenten» oder «personalisierter Medizin» zu sprechen, weil damit zu hohe Erwartungen geweckt würden.
Zudem sehen die Autorinnen und Autoren der TA-Studie gesetzlichen Regelungsbedarf im Bereich der Biobanken, auf die vorab der Forschungsbereich Pharmakogenomik angewiesen ist. In den Biobanken werden Tausende von Blut- und Gewebeproben aufbewahrt. Diese brauchts, um die Funktionen der Gene im Zusammenspiel mit Umwelt und Lebensstil erforschen zu können. Hier stelle sich die Frage, wem die Proben gehören und wer darüber verfügen darf. Hier müsste aber auch mittels dezentraler Organisationsformen und Verschlüsselung der Proben die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen garantiert werden. Dasselbe gelte auch für die Vertraulichkeit der mittels Gentests gewonnenen Patientendaten gegenüber Versicherungen und Arbeitgeber.
Die Auswirkungen von Pharmakogenetik und -genomik auf die künftigen Gesundheitskosten werden dagegen unterschiedlich beurteilt. Einerseits wird in der Verminderung des Risikos von Nebenwirkungen ein kostensenkendes Element gesehen. Kostensteigernd könne sich dagegen der zunehmende Bedarf an genetischen Tests auswirken, meint die TA-Studie.