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Das Ende der Kletterstange

Wie im Rekrutierungszentrum Rüti über «tauglich» und «untauglich» befunden wird: Ins fünfte Jahr geht die neue Methode der Schweizer Armee, ihren Nachwuchs zu rekrutieren. Das nun drei Tage dauernde Aushebungsverfahren scheint alle zu befriedigen, sogar die angehenden Rekruten. Und: Es geht tatsächlich auch ohne Kletterstange, hat ein Augenschein im Rekrutierungszentrum Rüti ergeben. Wer sich jeweils zu Wochenbeginn ins ehemalige Kreisspital von Rüti im Kanton Zürich verirrt, glaubt in einem Ferienlager gelandet zu sein. Im Eingangsbereich hängen junge Leute rum, trinken ihr Cola, bearbeiten den Töggelikasten oder haben sonst den Plausch. Nur das Nummernschild, das jeder Bursche um den Hals trägt, verrät, dass wir uns in einem der sieben Rekrutierungszentren der Schweizer Armee befinden.

Rund 140 junge Männer werden hier Woche für Woche auf ihre Diensttauglichkeit überprüft. Hin und wieder wird über den Lautsprecher eine Nummer aufgerufen, der Betreffende erhebt sich und begibt sich ins Untersuchungszimmer. In Einerkolonne und nur mit Unterhose bekleidet anstehen – das gibt’s heute nicht mehr.

Diskrete Behandlung

Stimmt, seit das Aushebungsverfahren anfangs 2003 in sieben Zentren organisiert ist, legen wir grossen Wert auf individuelle und diskrete Behandlung der jungen Leute», bestätigt Andres Kunz. Er ist Chefarzt am Rekrutierungszentrum, Facharzt FMH für Allgemeine und für Manuelle Medizin. Er trägt zwar die Rangabzeichen eines Oberstleutnants, ist jedoch nicht Berufsmilitär, sondern «bloss» Angestellter des VBS, betont er.

Drei Tage dauert das Selektionsverfahren, in dessen Verlauf die angehenden Rekruten buchstäblich auf Herz und Nieren geprüft werden. Aufgeboten wurden allerdings bloss Stellungspflichtige, die nicht vorgängig schon aufgrund von Arztzeugnissen wegen schwerer Handicaps dispensiert werden mussten. Im Verlauf des Gesundheits-Checks wird auch der «Body Mass Index» (BMI) bestimmt. «Ist dieser hoch, kann das bereits die Diensttauglichkeit in Frage stellen», sagt Andres Kunz. Es habe sich gezeigt, dass die Rate fettleibiger Stellungspflichtiger deutlich im Steigen begriffen ist.

Der Arzt führt mich durch die Praxisräume des Zentrums, in denen Herztätigkeit, Lungenfunktion, Hörvermögen und Sehschärfe überprüft werden, im Zweifel unter Beizug von Fachärzten. Ein Optiker vermisst – wo nötig – auch gleich die Korrekturen, damit die Militärbrille dann bereits zu Beginn der Rekrutenschule abgegeben werden kann.

Impfen auf freiwilliger Basis

Auf freiwilliger Basis (Kunz: «weil dies ein Eingriff in die körperliche Integrität ist») wird den Stellungspflichtigen auch eine Blutuntersuchung angeboten, mit der nach Abweichungen in Blutbild und Blutchemie sowie Infektionen mit Hepatitis B und C gesucht wird. Rund 88 Prozent der jungen Leute lassen ihr Blut untersuchen, und das ist wohl gut so. Denn laut Andres Kunz finden sich jeweils bei vier bis acht Prozent der Untersuchten «deutliche Abweichungen oder gar krankhafte Veränderungen». Die Betroffenen werden dann schriftlich orientiert und aufgefordert ihren Hausarzt aufzusuchen.

Auf weniger Gegenliebe (70 Prozent Beteiligung) stösst die ebenfalls freiwillige Röntgenuntersuchung des Brustkorbs zur Erkennung einer allfälligen Tuberkulose-Erkrankung. Auch das Impfprogramm (Starrkrampf, Diphterie, Kinderlähmung und Meningitis) setzt das Einsehen des Stellungspflichtigen voraus – und findet es offenbar in der Regel, wie der Erfolg zeigt. Denn «vor dem Impfangebot waren in der Armee jährlich drei bis fünf Todesfälle wegen Hirnhautentzündung zu beklagen, seit Beginn der Impfkampagne 2001 ist kein einziger Fall mehr aufgetreten», weiss der oberste Rekrutierungsarzt.

Neu mit Psychologie-Test

Weiter werfen wir – um nicht zu stören – bloss einen Blick in den Theoriesaal, wo die Psychologie-Tests abgehalten werden. Auch ein Novum seit dem Jahr 2003: Um die Beurteilung des psychischen Gesundheitszustandes, der kognitiven Fähigkeiten, von Motivation und allenfalls Eignung für eine Kaderlaufbahn zu erleichtern, verbringen die Stellungspflichtigen mehrere Stunden am Computer. Getestet werden Textverständnis und allgemeine Intelligenz, ausgefüllt werden ein psychologischer und ein psychiatrischer Fragebogen. Ob da nicht oft geschummelt wird, um sich vom Dienst zu drücken? «Das ist schwer möglich, es sind Hunderte von Fragen zu beantworten, Widersprüche fallen sofort auf», ist Andres Kunz sicher. Zudem: Wenn die über Computer ermittelten Resultate ungenügend oder unklar erscheinen, werden die betreffenden Probanden in einem Gespräch näher abgeklärt – bei 25 bis 30 Prozent der Stellungspflichtigen ist dies der Fall. Dabei ist es dann schwierig zu schummeln.

Drückeberger kaum ein Problem

Die Mehrzahl der an diesem Mittwochmorgen in Rüti auf dem Prüfstand stehenden jungen Männer scheint sich auch gar nicht vom Dienst drücken zu wollen. «Klar will ich die Rekrutenschule bestehen, das ist Ehrensache», antwortet einer der jungen Männer auf meine Frage. Ein anderer freut sich auf den Dienst bei den Übermittlungstruppen, «dort kann ich etwas lernen». Ein Dritter macht eine simple Rechnung: «Bei der momentanen Höhe des Militärpflichtersatzes kann ich es mir gar nicht leisten, für untauglich erklärt zu werden».

Aber ob «tauglich» oder «untauglich», ob für den Militärdienst geeignet oder für den Schutzdienst oder einfach vorläufig zurückgestellt: Das bestimmen letztlich die Ärzte und Psychologen. «Es ist eine Gratwanderung zwischen dem in der Bundesverfassung verankerten Gebot der allgemeinen Dienstpflicht, den Bedürfnissen der Armee und den persönlichen Wünschen der Stellungspflichtigen», sagt Andres Kunz. Doch für ihn als Arzt steht die Gesundheit der jungen Männer an erster Stelle, was zählt, ist die Beurteilung durchs Rekrutierungs-Ärztegremium, das jeden Fall durchdiskutiert. Das «Urteil» wird dann jedem von einem Rekrutierungsarzt persönlich mitgeteilt. Und im Abschluss-Gespräch mit dem Kommandanten des Rekrutierungszentrums erfolgt dann die definitive Zuteilung zur Waffengattung, die den Fähigkeiten des Stellungspflichtigen am besten entspricht.

Fitness ohne Kletterstange

Doch noch ist es nicht so weit. Es ist jetzt 13 Uhr, und die Gruppe, die ich zu Beginn in der Eingangshalle getroffen habe, macht sich bereit für den Sporttest. Der wird nebenan in einer provisorisch aufgebauten Traglufthalle durchgeführt. Weitsprung aus dem Stand, Medizinballwurf im Sitzen, Dauerlauf mit eingebauter Leistungssteigerung und ein Rumpfkrafttest sind die Disziplinen, in denen sich die angehenden Rekruten während eineinhalb Stunden messen. Daneben werden auch Gleichgewichtssinn und Muskelkoordination gefordert. Etwa indem die Prüflinge möglichst lange auf einem Bein stehen müssen, die Augen geschlossen und den Kopf im Nacken. Gar kein leichtes Spiel, versuchen Sie es selbst. Damit verglichen ist die Kletterstange tatsächlich Eisen von gestern.

Box: Jährlich 15 Millionen Franken Einsparungen

Das seit 2003 eingeführte Aushebungssystem hat sich nach Ansicht des Chefarztes des Rekrutierungszentrums Rüti für alle Beteiligten bewährt. «Früher mussten 20 bis 30 Prozent der in die Rekrutenschule Eingerückten innert der ersten drei Wochen wieder nach Hause geschickt werden, was eine riesige Belastung war für die Schulen und für die Ex-Rekruten, die sich dann oft in die Arbeitslosigkeit entlassen sahen», resümiert Andres Kunz. Solche Situationen sind dank dem dreitägigen Abklärungsverfahren während der Rekrutierung selten geworden. Zwar sank mit dem neuen Verfahren die offizielle Tauglichkeitsrate von 85 auf 65 Prozent, mit einem willkommenen Nebeneffekt: Der Bund spart jährlich 15 Millionen Franken, weil erweniger untaugliche junge Männer in die Rekrutenschule aufbietet.

Box: Basler zur Hälfte untauglich

Im Jahr 2006 erwiesen sich knapp 65 Prozent der zur Rekrutierung aufgebotenen 38 500 jungen Männer als diensttauglich. Dabei sind grosse regionale Unterschiede auszumachen: Am «fittesten» scheinen mit 83 Prozent Tauglichkeits-Attest die jungen Appenzeller zu sein. Die Kantone Zürich (52,47) und Basel-Stadt (53,17 Prozent), dessen Stellungspflichtige in Windisch beurteilt werden, hinken da eher hintendrein. Andres Kunz hat im Herbst 2005 eine Feinanalyse in seinem Gebiet (Kantone Zürich, Thurgau und Schaffhausen) von Bezirk zu Bezirk durchgeführt. Er konnte damit bestätigen, dass die Tauglichkeitsrate mit steigender Bevölkerungsdichte (also in städtischen Gebieten) abnimmt. Andres Kunz vermutet hinter dem Phänomen «soziodemographische Umstände». Was genau dahintersteckt, wäre wohl eine genauere Untersuchung wert.

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