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Gesellschaft

Wie Ideologen zu Idealisten wurden

Ein Experiment über drei Generationen

Seit 40 Jahren unterzieht die Bewegung «Longo Mai» links-alternative Lebensformen dem harten Praxistest. 

Zu Beginn wurden sie nur belächelt, die rund 30 jungen Leute, die 1973 von Basel auszogen, um die Welt zu verbessern. Angeekelt von einer Gesellschaft, die bloss auf Gewinn-Maximierung aus war und in Kauf nahm, dabei den Planeten Erde zu zerstören. Angetrieben von der Vision von einem Leben nach eigenen Vorstellungen mit demokratischer Planung, Selbstverwaltung und Selbstversorgung. 

Fündig wurden die Pioniere zunächst auf einem Hügel in der Provence bei der Ortschaft Limans. Dort waren 300 Hektaren steiniges Land zu haben, verkrautet, von Krüppeleichen überwuchert, die Quellen versiegt. Dieser verlassene Flecken Erde mit ein paar verfallenen Bauernhäusern drauf sollte zum Experimentierfeld werden für alternative Lebensstile. Da half es, dass einige der jungen Bewegten aus gutbürgerlichem Basler Hause stammten. Eine Familie verkaufte ihr Haus, einige Eltern offerierten Erb-Vorbezüge, so wurde der Kaufpreis für das Land (knapp 400 000 Franken) aufgebracht. Das Experiment «Longo Mai» («Lange möge es dauern») konnte beginnen, und es dauert tatsächlich bis heute an.

Krach wegen Drogen

Angefangen hat es ja – wie vieles in Europa – mit der 68er Bewegung. In Wien probt eine Gruppe junger Künstler unter dem Namen «Spartakus» den Aufstand, protestiert gegen Grossbürger-Kultur und den Schah, engagiert sich gegen die Armee und für benachteiligte Jugendliche, kurz, macht sich bei den Behörden und Rechtsextremen derart unbeliebt, dass sie Österreich verlassen muss. Unterschlupf finden die Spartakisten zunächst in Basel bei der POB. Aber man wird nicht warm miteinander. Zum handfesten Eklat kommt es etwa wegen des Konsums illegaler Drogen, den die Spartakus-Aktivisten als «pervertierteste Form der Konsumgesellschaft» brandmarken, während die Basler Progressiven das nicht so eng sehen.

Suche nach dem sinnvollen Leben

Man trennt sich, die Spartakisten gründen zusammen mit Basler Gleichgesinnten die «Hydra», die sich zunächst der konkreten Lebens- und Ausbildungshilfe für Lehrlinge verschreibt und so zum Schreckgespenst manch eines Lehrmeisters wird. «Ein Millimeter Praxis ist besser als zehn Kilometer Theorie» lautet die Losung. So ist es kein Zufall, dass sich viele spätere Longo Mai-Pioniere aus der Hydra-Gruppe rekrutieren. («Bevor man grossartige soziale oder politische Theorien aufstellt, muss man der Ehrlichkeit halber den Beweis erbringen imstande zu sein, sich ein Dach über dem Kopf zu errichten, das Nötigste anzubauen und sich einigermassen gut ernähren zu können …», so die Überzeugung der Longos.) Sie ziehen in die Provence, um ihre Vorstellungen von einem sinnvollen Leben in die Praxis umzusetzen, die Ideologen haben sich zu Idealisten gewandelt. Die progressiven Organisationen sollten ihnen diesen Verrat an der Theorie nie verzeihen – aber sie sind ja inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Longo Mai hingegen hat bereits drei Generationen er- und überlebt.

«Es war kein Honiglecken», erinnert sich Hannes Reiser, Mann der ersten Stunde. «Wir hatten als Stadtmenschen keine Ahnung von Landwirtschaft, Umgang mit Behörden oder Buchhaltung.» Zum Glück wurden die jungen Leute gut aufgenommen von den wenigen Bauern in der Nachbarschaft, die der allgemeinen Landflucht widerstanden hatten und dem kargen Boden der Provence treu geblieben waren. Sie brachten den Longos bei, wie man Schafe züchtet und deren Wolle verwertet, wie man Getreide und Gemüse anbaut, wie man sich ein Dach über den Kopf besorgt.

Das rettende Stadtfest

Doch die Pioniere waren pleite, der Landkauf hatte alle Reserven aufgezehrt. Da zahlten sich die alten Basler Wurzeln aus. Im Sommer 1974 wurde auf dem Münsterplatz zu Gunsten von Longo Mai ein Stadtfest organisiert. Es wurde zwar jämmerlich verregnet, aber immerhin konnte mit dem Erlös ein Occasions-Mähdrescher angeschafft werden. Hauptsache jedoch: Longo Mai war den Baslern dank dem Fest durch alle Bevölkerungsschichten hindurch zum Begriff geworden, und die Pioniere konnten die Kunst des Geldsammelns perfektionieren. Heute verfügt Longo Mai über rund 10 000 Adressen mehr oder weniger regelmässiger Spender.

Das braucht’s aber auch, denn Geld ist ständige Mangelware. Zwar lebt man in den inzwischen zehn Kooperativen und Projekte von Longo Mai in Kommunen. Niemand bezieht Lohn, Arbeit wird mit Kost und Logis abgegolten, 15 Euro Taschengeld pro Woche müssen reichen. Was in der Kooperation über den Eigenbedarf hinaus produziert wird, wird verkauft, der Erlös fliesst in die gemeinsame Kasse. Es reicht nicht immer, um Extraausgaben für Geräte, Maschinen oder Kleider zu decken.

Arbeiten ohne Lohn

Die Longo Mai-Landwirtschafsbetriebe sind eben keine Bauernhöfe im herkömmlichen Sinne. Es sind Produktionsstätten, die möglichst die ganze Wertschöpfungskette in eigenen Händen behalten wollen, von der Wolle bis zum fertigen Pullover, von den Früchten bis zur Konfitüre, vom Wald bis zum Bauholz. Profit erwirtschaften steht nicht im Vordergrund. Entsprechend arbeiten die Kommunarden nicht mit, um Geld zu verdienen, sondern um eine bewusst gewählte Lebensform zu verwirklichen und Arbeit zu leisten, in der sie einen Sinn sehen. Es gibt im Prinzip weder Chefs noch hierarchische Strukturen, was zu entscheiden ist, wird in wöchentlichen Vollversammlungen an der Basis diskutiert. Zum Arbeitseinsatz schreibt man sich in Listen ein, zum Bauen, Ausmisten, Kochen oder WC-Putzen. In der Regel funktioniert das.

Vielleicht wären die Longo Mai-Kooperativen (auch dank Agrarsubventionen) insgesamt sogar selbst tragend, würden sie sich aufs Produzieren und Verkaufen beschränken und nicht viele Mittel für «betriebsfremde» Aktivitäten verwenden. Aber «wir sind nicht hierher gekommen, bloss um Lavendel zu pflücken», so ein Longo von der Kooperative Limans. Vielmehr versteht man sich als eine Art Gesamtkunstwerk, mischt sich in die Politik ein, betreibt eine eigene Radiostation, bietet Künstlerinnen ein Forum, macht viel und gerne Musik. 

Die Jugendarbeit

Nach dem Motto «Seinen Garten bestellen und die Welt verändern» ist also die politische und soziale Arbeit den Kommunarden Herzensangelegenheit geblieben. So wird zum Beispiel die Jugendarbeit in alter Hydra-Tradition weiter gepflegt. Durchschnittlich 1500 Jugendliche, arbeitslos oder Sinn und Zukunft suchend, finden jedes Jahr den Weg zu Longo Mai. Einige reisen gleich wieder ab, sobald sie merken, dass alternative Lebensweise mit harter Arbeit verbunden ist. Andere bleiben ein paar Wochen, Monate oder gar Jahre und packen mit an. Jeweils zwei Longos sind eigens dafür abgestellt, sich um die jungen Gäste zu kümmern.

Gelebte Solidarität

Naheliegend sodann, dass sich Longo Mai im landwirtschaftspolitischen Fragen engagiert, etwa wenn es um Bewahrung der Saatgut-Vielfalt geht oder gegen die staatlich verordnete elektronische Markierung der Schafe. Politisch aktiv ist Longo Mai sodann über seine Ableger CEDRI (Komitee zur Verteidigung der Flüchtlinge und Gastarbeiter) und Europäisches BürgerInnenforum. Letzteres wurde während des 89er Umbruchs in Osteuropa gegründet und hat zum Ziel, direkte Kontakte zwischen den Menschen aus Ost und West herzustellen. Solidarität wird bei Longo Mai konkret gelebt, Flüchtlinge, Sanspapiers, ausgebeutete afrikanischen Gastarbeiter im Spanien und alle zu kurz Gekommenen finden bei den Longos ein offenes Ohr und nach Möglichkeit unbürokratische Hilfe.

Im Laufe der Jahrzehnte ist das Long Mai-Netzwerk vom Kristallisationspunkt Limans aus auf zehn Kooperationen und Projekte in fünf Ländern angewachsen: Landwirtschafts-Kooperationen (darunter Le Montois im Schweizer Jura), eine Wollspinnerei, ein Weinberg oder eine Finca in Costa Rica als Zufluchtsort für Landlose. Seit Jahrzehnten wohnen und arbeiten unverändert etwa 200 Erwachsene mit ihren Kindern auf den Höfen und in den Betrieben. Ein Zeichen des Stillstandes? «Nein», findet Hannes Reiser. «Longo Mai kann nur auf der Basis enger persönlicher Kontakte funktionieren, das bestimmt die Grösse des inneren Kerns.» Andererseits helfen die Longos allen Gruppen mit Rat und Tat, die es ihnen gleich tun und ähnliche Lebensprojekte auf die Beine stellen möchten. Rund zwölf Agrar-Kooperationen sind so nach dem Muster von Longo Mai gegründet worden.

Abschied von der Anarchie

Mit dem Wachsen des Netzwerks mussten die Longos mit der Zeit ein wenig abrücken vom anarchischen Chaos der Gründerjahre. Der gesamte Landbesitz wurde in eine Stiftung eingebracht und wurde so praktisch unverkäuflich. Ein Minimum an Strukturen wurde geschaffen, um eine faire Mittelverteilung innerhalb des Netzwerks zu ermöglichen und den Umgang mit Behörden zu erleichtern. (Oberstes Organ ist das «Interkooperative Treffen», in dem jede Kooperative vertreten ist. Letztere sind gemäss den jeweiligen Landesgesetzen als Verein organisiert, auch das Büro in Basel an der St.Johannsvorstadt, das die Umsetzung der gefassten Beschlüsse koordiniert und verantwortlich ist für Sammelaktionen und Kommunikation.) In Jahresberichten mit geprüfter Rechnung wird regelmässig Rechenschaft abgelegt über die Aktivitäten des Netzwerks – das war nicht immer so und hat in der Vergangenheit auch schon Irritationen verursacht.

Der nächste Generationenwechsel

So fühlt sich Longo Mai gerüstet für den nächsten Generationenwechsel. Für Nachwuchs ist gesorgt, sei es aus den eigenen Reihen, sei es dank Neu-Zuzügern. Offen ist noch, wie das Thema Altern angegangen werden soll. Die Pioniere der ersten Stunde sind inzwischen Grossmütter und Grossväter geworden, einige leben leider bereits bloss noch in der Erinnerung der Kommunarden. Wer einen Schweizer Pass besitzt, kann wenigstens auf eine AHV-Rente zählen, zudem wurde ein Altersfonds eingerichtet. Aber wird das reichen, den jetzt nicht mehr so aktiven Aktivisten einen würdigen Lebensabend zu garantieren? «Wir arbeiten intensiv an diesen Fragen», so Hannes Reiser. «Wir müssen den Jungen beweisen, dass unser Lebensmodell auch für ältere Menschen die bessere ist.» Nur so wird es lange dauern.

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