Gravitationsfeld-Messungen liefern neue Erkenntnisse
Die schlechte Nachricht: Der Eispanzer auf Grönland schmilzt zwar tatsächlich schneller, als er neu gebildet wird. Die gute: Die Negativ-Bilanz beträgt pro Jahr «bloss» 100 Milliarden Tonnen, knapp halb so viel, wie bisher angenommen wurde. Würde gleich alles Eis schmelzen, das Grönland und die Antarktis bedeckt, dann stiege der Meeresspiegel um gut 65 Meter an und weite Teile der Welt gingen buchstäblich unter. Über Sein oder Nichtsein vieler flacher Inseln und Küstenregionen entscheiden somit die Pol-Regionen. Herrscht dort Tauwetter, steigt der Pegel der Weltmeere und es bekommt ein Problem, wer zu nah am Wasser gebaut hat.
Über 3000 Jahre hinweg verharrte der Meeresspiegel etwa auf derselben Marke, erst für die vergangenen 50 Jahre registrieren Messstellen weltweit einen kontinuierlichen Anstieg um 1,8 Millimeter pro Jahr, gemäss Höhenmessungen von Satelliten aus sind es seit 1993 gar deren drei Millimeter. Ob es sich dabei um natürliche Schwankungen handelt oder einen langfristigen Trend, sei nicht leicht auszumachen, schreibt Anny Cazenave vom Observatoire Midi-Pyrénées in «Science» vom vergangenen 19.Oktober. Immerhin können mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Einmal die Temperatur des Meeres: Mit dessen Erwärmung expandieren auch die Wassermassen, folglich tendieren die Pegelstände nach oben. Rund die Hälfte des Meeresspiegel-Anstiegs ist laut Cazenave diesem Phänomen zuzuschreiben. Der Rest geht etwa zu gleichen Teilen aufs Konto der kontinentalen Gletscherschmelze und des Schrumpfens der Polareiskappen, beides trägt schätzungsweise 0,8 Millimeter pro Jahr zum Anstieg des Meeresspiegels bei.
Will man also den künftigen Wasserstand der Weltmeere voraussagen, ist es gut zu wissen, was beispielsweise auf der etwa 3000 Meter dicken Grönland-Eisschicht abgeht. Dazu hat der Nasa-Forscher Scott Luthcke in derselben Ausgabe von «Science» eine neue Technik vorgestellt. Er und seine Kollegen haben die 2,2 Millionen Quadratkilometer messende Insel in sechs Sektoren eingeteilt und vom Grace-Satellitensystem vermessen lassen. Damit können lokale Unterschiede im Gravitationsfeld der Erde registriert werden, was wiederum ermöglicht, auf die Schwankungen der Eismassen am betreffenden Ort rückzuschliessen.
Die Nasa-Forscher konnten so bestätigen, dass die Randzonen des Grönlandeises unterhalb von 2000 Metern tatsächlich massiv abbröckeln, nämlich um 155 Milliarden Tonnen (Gigatonnen) pro Jahr. Doch dieser Verlust wird zumindest teilweise wett gemacht durch eine Zunahme der Eismassen im Inselinnern um 55 Gigatonnen. Auch letzteres ist übrigens eine Folge der Erderwärmung: Warme Luft vermag mehr Feuchtigkeit aufzunehmen, daher schneit es dann im grönländischen Hochland häufiger und mehr. So kommt es, dass Grönland pro Jahr unter dem Strich wahrscheinlich «bloss» 100 Gigatonnen seiner weissen Pracht verliert und nicht 240 Gigatonnen, wie man zuvor angenommen hatte. Ein Trost, wenn auch nur ein schwacher.