November 2006, von Ulrich Goetz
Seeigel sind dem Menschen näher verwandt, als man denken möchte
Sie sind wegen ihres Rogens vorab bei Japans Feinschmeckern beliebt, und auch Wissenschaftler halten sie gerne als «Haustiere» im Labor, die Seeigel. Jetzt ist ihr Genom entziffert worden. Mit gleich sechs Beiträge feiert das Wissenschaftsmagazin «Science» heute den purpurnen Seeigel Strongylocentrotus purpuratus. Aktueller Anlass: Ein Forscherteam um Georges Weinstock vom Baylor College of Medicine in Houston/Texas hat das Genom des bei Schwimmern so verhassten Stachelhäuters aufgeklärt.
Na und, nach Fadenwürmern und Fruchtfliegen sind nun eben die Seeigel an der Reihe, könnte man denken. Wäre da nicht die Tatsache, dass die Stachelhäuter die nächsten Verwandten der Wirbeltiere und damit auch des Menschen sind, diesem also viel näher stehen als etwa Fliegen und Würmer. Kommt dazu, dass Seeigel in den vergangenen hundert Jahren immer wieder begehrte Studienobjekte waren. An ihnen konnte demonstriert werden, wie Befruchtung, Vererbung und Gen-Regulation funktionieren. Auch die Embryo-Forschung hat von den Seeigeln enorm profitiert. Denn die Stacheltiere sind überaus fruchtbar und deren Nachwuchs ist im Frühstadium einfach zu halten und zu manipulieren. Mit der Aufklärung des Genoms der Seeigel hofft man, diese Tiere künftig noch vermehrt als Modellorganismen für menschliche Krankheiten einsetzen zu können. 23 300 Gene haben Weinstock und Kollegen im 814 Millionen Basenpaare zählenden Genom ausgemacht, darunter einige, die man bis jetzt nur bei Wirbeltieren kannte.
Eine Überraschung ist bereits perfekt: Die Genom-Sequenzierung hat gezeigt, dass Seeigel ein erstaunlich komplexes Immunsystem haben. So verfügen die Stachelhäuter über ein riesiges Arsenal von Abwehrkörpern, die allzeit bereit sind, einen Eindringling unschädlich zu machen. In dieser Beziehung ist das Seeigel-Immunsystem demjenigen der Wirbeltiere überlegen, da letzteres oft eine gewisse Anlaufzeit braucht, bis es fit ist für die Bekämpfung eines Pathogens.
Die dank der Genom-Aufklärung gewonnenen Daten erlauben aber auch einen Blick zurück in geologische Zeiten. Die gleichen Gene, die heute den Bau der harten Schale steuern, haben schon vor 540 Millionen Jahren im Kambrium die Bio-Mineralisation der Stachelhäuter eingeleitet – und damit die «kambrische Explosion» der Artenvielfalt. Jetzt ist es möglich, diese für unseren Planeten so wichtigen Evolutionsprozesse rückblickend mit der «Genom-Linse» unter die Lupe zu nehmen.
Und schliesslich hoffen die «Science»-Autoren dank der Genom-Sequenzierung mehr zu erfahren über die Rolle, die Seeigel spielen bei der Aufrechterhaltung des ökologischen Gleichgewichts in den Seetang-Wäldern. Die Stacheltiere grasen dort gerne, und wo es viele Seeigel hat, wächst bald nichts mehr. Denn dann fischen die Stachelhäuter bereits die jungen Seetangpflänzchen aus dem Wasser so dass schon gar keine Tangwiesen mehr anwachsen können. Diese wiederum sind wichtig für das Fischereigewerbe, weil sich der Tangwälder dem Fisch-Nachwuchs Schutz bieten. Wer also weiss, wie Seeigel ticken, dem winkt – zumindest mittelfristig – Petri Heil.
Langlebige Stachelhäuter
Die Seeigel gehören zur Klasse der Stachelhäuter und bevölkern alle Weltmeere. Bis jetzt sind etwa 950 Arten bekannt, einige unter ihnen werden bis zu 100 Jahre alt. Alle besitzen ein inneres Kalkskelett (Endoskelett), das bei «regelmässigen» Seeigeln mehr oder weniger kugelförmig und radialsymmetrisch gebaut ist. Darin unterscheiden sich die «unregelmässigen» Seeigel (Irregularia) augenfällig: Ihr Skelett ist wie etwa bei den Sanddollars flach bis scheibenförmig geformt und bilateral orientiert.
Seeigel sind Vegetarier und ernähren sich hauptsächlich von Seetang. Die gefürchteten Stacheln sitzen auf kleinen Gelenken und können bewegt werden. Bei einigen Arten werden sie zur Verankerung an Felsen genutzt oder zur langsamen Fortbewegung bei Wanderungen über Sandböden. Hauptsächlich dienen die Spiesse jedoch der Verteidigung gegen Fressfeinde, grosse Fische, Seesterne und Menschen. Letztere stellen für Seeigel bald die grösste Gefahr dar. Besonders in Japan ist der Rogen der Stachelhäuter als Sushi-Rohstoff vor allem bei Männern sehr beliebt, er gilt als Aphrodisiakum.
Stachelhäuter wie Wirbeltiere (und Menschen) gehören zusammen zur Tiergruppe der Deuterostomen, den «Neumündern», bei denen sich der Mund im Lauf der Evolution erst später aus dem Darmtrakt entwickelt hat. Die bei den Genforschern als Studienobjekte ebenfalls beliebten Fadenwürmer und Fruchtfliegen zählen dagegen zur Gruppe der Protostomen. Der Seeigel ist somit das erste Nicht-Wirbeltier der Gruppe Deuterostomen, dessen Genom aufgeklärt werden konnte.
Mit Urin oder Mangoschale
Schmerzhafter noch als der Tritt in einen Seeigel ist es oft, sich von den heimtückischen Stacheln wieder zu befreien. Mit der Pinzette nach den schwarzen Fremdkörpern unter der Haut zu angeln bringts meistens nicht, weil Seeigelstacheln mit Widerhaken und oft sogar mit Gift bewehrt sind. Fischer pflegen eine mit Urin getränkte Wollsocke über die lädierte Ferse zu ziehen, ein anderes Hausrezept empfiehlt stundenlanges Einweichen in Seifenlauge.
Der Mainzer Tropenmediziner Johannes Wantzen kennt noch eine andere Remedur. Er bindet die betroffene Körperstelle während 24 Stunden satt mit der Schale einer reifen Mango oder Papaya ein. Die in den Früchten enthaltenen Enzyme wie etwa Papain weichen die Stacheln auf, die sich jetzt – schmerzlos, so versichert Wantzen – mit der Pinzette aus dem Gewebe ziehen lassen. Und die Mango mundet erst noch vorzüglich.