Von einem erneuten Versuch, Musik und Mathematik miteinander zu verheiraten
Der amerikanische Musikwissenschaftler Dmitri Tymoczko will ein geometrisches Modell entwickelt haben, mit dem er Musik exakt beschreiben kann. Mehr noch: Gar als Kompositionshilfe könne sein System benutzt werden, meint er. Der Basler Komponist Rudolf Kelterborn sieht das etwas anders. Besitzen Bachs Fugen eine geometrische Gestalt? Oder allgemeiner ausgedrückt: Lässt sich polyphone westliche Musik, verstanden als Verknüpfung von (vertikaler) Harmonie und (linearer) Melodie, mathematisch beschreiben? Diese Frage hat die Menschheit wohl beschäftigt, seit sie Musik macht – und Wissenschaft betreibt.
Nach der Mathematik in der Musik hat schon Pythagoras gesucht. Mit Erfolg, soll er doch die Intervalle Oktave, Quarte und Quinte in einer Schmiede anhand unterschiedlich langer Eisenstäbe errechnet haben. Gar ein komplettes musikalisches Weltmodell entwickelte Johannes Kepler, als er 1619 in seinem Werk «harmonices mundi» aus den Gesetzmässigkeiten der Planetenbewegung «Sphärenmusik» heraushörte. Als «verborgene arithmetische Übung der Seele, die nicht weiss, dass sie mit Zahlen umgeht», hat dann auch Leibniz (1646-1716) die Musik verstanden. Und 1739 stellte der Basler Mathematiker Leonhard Euler (sein 300. Geburtstag wird kommendes Jahre gefeiert) erstmals das Tonintervall-Gefüge in einem mehr-dimensionalen geometrischen Gittersystem, einem «Tonnetz», dar.
«Für die Musiker zu anspruchsvolle Mathematik, für die Mathematiker zu musikalisch», kommentierte zwar ein Biograph Eulers Versuch, Mathematik und Musik miteinander zu verheiraten. Aber ausgerechnet auf Euler beruft sich jetzt der Musiktheoretiker Dmitri Tymoczko. In der jüngsten Ausgabe von «Science» beschreibt der an der Princeton-Universität tätige Musikwissenschaftler ein geometrisches Modell, mit dem er im Prinzip jegliche Art von Musik darstellen kann, ob sie sich des im Westen üblichen Zwölftonsystems bedient oder auch Viertelton-Intervalle zulässt.
«Orbifold» nennt Dmitri Tymoczko den gekrümmten Tonraum, in dem er sowohl Harmonie (Akkorde) als auch Kontrapunkt (Melodie) mathematisch darstellen kann. Dabei werden die einzelnen Akkorde als Punkte dargestellt, die über Liniensegmente miteinander zu Melodien verknüpft wreden. «Damit ist es möglich, genau aufzuzeigen, wie Harmonie und Melodie zusammenspielen. »Mit seinem geometrischen System sei es möglich zu erklären, weshalb gewisse Akkorde vom Menschen als Dissonanz empfunden werden, andere als Wohlklang. Und weshalb die einen Melodien als Ohrwürmer in die Hit-Parade eingehen, andere dagegen als fad und langweilig empfunden werden.
Bewahrheiten sich Tymoczkos Versprechungen, so hat er tatsächlich ein treffliches Instrument geschaffen, um Musik zu analysieren. Ein Werkzeug, mit dem man jetzt endlich herausfinden könnte, ob zum Beispiel Bach seinen Kompositionen tatsächlich bewusst geometrische Muster unterlegt hat oder nicht. Voraussetzung ist allerdings, dass der Musikliebhaber, der sich auf Tymoczkos Orbifold einlässt, gleichzeitig ein guter Mathematik-Kenner ist.
Der Autor hat auch sonst noch Grosses vor mit seinem Modell. Er will es beispielsweise dazu einsetzen, gleichermassen nicht-westliche Musik, etwa afrikanische Rhythmen, unter die Lupe zu nehmen. Und nicht zuletzt könnte er sich vorstellen, dass Komponisten sein Modell dazu verwenden werden, neue Kompositionstechniken zu entwickeln. Dazu setzt der Basler Komponist Rudolf Kelterborn allerdings ein grosses Fragezeichen.
«Natürlich gibt es zwischen geometrischen und musikalischen Gestalten und Formen Analogien», meint er auf Anfrage der baz. Werde jedoch die Musik auf ein geometrisches Muster reduziert, «bleibt ein ganz wesentlicher Parameter der Musik auf der Strecke: Der Zeitverlauf.» Zwar seien bei den messbaren Zeitabläufen in den einfachsten Fällen noch Analogien zu sichtbaren (geometrischen) Formen nachvollziehbar. «Aber entscheidend ist nicht die messbare, sondern die Erlebnis-Zeit – und dazu gibt es in der Welt des Visuellen (oder auch der Zahlenfolgen) nichts Vergleichbares.» Bezeichnend sei ja auch, dass ein rhythmischer Ablauf (sofern er nicht nur aus den allereinfachsten lang-kurz-Verhältnissen besteht) in seinem Rückwärtsablauf nicht als symmetrisch rückläufige Variante der Originalgestalt gehört werde. «Man kann die Probe aufs Exempel machen: Notiert man zum Beispiel das rhythmisch keineswegs komplizierte Thema von Bachs Fuge in dis-moll BWV 853 original und gleich anschliessend im Rückwärtsablauf (Original und Krebs), dann «sieht» man zwar die Symmetrie tatsächlich im Notenbild. Wird uns diese Kombination jedoch vorgespielt, dann hören wir zwar einige motivische Zusammenhänge, aber auf keinen Fall die Symmetrie des Ganzen. Die Zeit lässt sich eben nicht umkehren.»