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Gesundheitspolitik

«Im Ernstfall werden die Spitäler überrannt»

Der Notfall-Mediziner Pinchas Helperin schildert, wie Israels Rettungswesen die Folgen des Terrors meistert

«Lärm herrscht und Konfusion, was in den Lehrbüchern steht kann man gleich vergessen»: So beschreibt der israelische Notfall-Experte Pinchas Helperin die Szenerie, die sich den Spitalverantwortlichen jeweils nach einem Terroranschlag darbietet. Prof. Helperin schilderte am Basler Symposium Notfallmedizin, wie das israelische Rettungswesen mit fünf Jahren Intifadah bis jetzt zu Rande gekommen ist.

Thema des Basler Symposiums Notfallmedizin war eigentlich, Konzepte zu diskutieren, wie während der EURO 2008 Worst-Case -Szenarien – von Massenschlägereien bis Bombenattentaten – zu bewältigen wären. Und mit Prof. Pinchas Helperin, dem Chef der Notfallmedizin von Tel Aviv, war ein Hauptreferent gewonnen worden, der aus reicher eigener Erfahrung berichten konnte, was im Spital abgeht nach einem Grossereignis mit Dutzenden Verletzten.

«Planbar ist sehr wenig», so sein Fazit. Das beginnt schon bei der Art der Verletzungen beispielsweise nach einem Bombenattentat. Die Opfer können gleichzeitig von Splittern getroffen worden sein, interne und externe Blutungen aufweisen, Verbrennungen, Knochenbrüche und innere Verletzungen erlitten haben. «Oft sieht es aber auf den ersten Blick viel schlimmer aus, als es ist.»

Spitäler werden überrannt

Erschwert wird das Katastrophenmanagement im Spital auch dadurch, dass erfahrungsgemäss besonders die weniger schwer Verletzten sich auf eigenen Beinen in die nächstgelegene Notfallstation durchschlagen oder von Angehörigen dorthin gebracht werden – und nicht brav darauf warten, bis sie vom Sanitätspersonal am Katastrophenort eingewiesen werden. «Die Spitäler werden daher innert Minutenfrist nach dem Ereignis regelrecht überrannt.»

Mit den Folgen von 36 Terroranschlägen sah sich das israelische Notfallwesen in den Jahren 2000 bis 2005 konfrontiert. Dabei kamen insgesamt 7590 Menschen zu Schaden. Zu beklagen waren 976 Tote, 621 schwer und 907 mittelschwer Verletzte sowie 5086 Leichtverletzte, darunter elf Mitglieder der Rettungskräfte.

Ambulanz braucht 3,9 Minuten

Durchschnittlich 42 Ambulanzfahrzeuge standen jeweils im Einsatz, 3,9 Minuten dauerte es im Schnitt, bis das erste Fahrzeug vor Ort war, 10,7 Minuten, bis erste Verletzte und 25 Minuten, bis auch die letzten Schwerverletzten evakuiert waren. Die kurze Reaktionszeit der Ambulanzfahrzeuge ist laut Prof. Helperin möglich, weil die Fahrer ihre Fahrzeuge mit nach Hause nehmen, mit Beeper und GPS ausgerüstet sind und damit sehr schnell auf einen Alarm reagieren können.

Der erste Arzt, der am Katastrophenort eintrifft, übernimmt das Kommando, «ungeachtet der Seniorität». Er oder sie hat vor allem die Aufgabe, die Kommunikationswege zu Notfallzentrale und den Spitälern per Mobilphon offen zu halten.

Neugierige werden eingespannt

Den Unglücksort vor Neugierigen abzuschirmen ist gemäss Prof. Helperin «reine Kraftverschwendung». Vielmehr werden alle am Schauplatz Anwesenden zu Hilfeleistungen beigezogen, und sei es bloss als Bahrenträger.

Ziel ist es jeweils, die Verletzten möglichst rasch ins nächste der übers Land verteilten 25 Spitäler zu bringen, ohne am Unglücksort eine Triage durchzuführen oder gross erste Hilfe zu leisten. «Sämtliche Spitäler verfügen über eine gut ausgerüstete Notfallstation, sodass wir uns im Feld draussen darauf beschränken, wenn nötig eine Infusion zu setzen.» Falls die Kapazität des nächstgelegenen Spitals erschöpft ist, organisiert dieses nach der Notversorgung den Weitertransport der Verletzten.

7 Sekunden für Triage

Erst in der Notfallstation erfolgt die Triage nach dem Prinzip «Schauen–Hören–Fühlen»: den Patienten anschauen, ihm eine Frage stellen, den Puls fühlen (nicht zählen, das braucht zuviel Zeit). Innert sieben Sekunden wird entschieden, ob da ein leicht oder schwer Verletzter auf der Bahre liegt. «Im Zweifelsfall entscheidet man eher in Richtung rot, zurückstufen kann man später immer noch», sagt Prof. Helperin.

Verletzten-Register

Gleichzeitig wird vom Verletzten eine Digitalaufnahme gemacht, die ins nationale Verletzten-Register «Adam» eingespiesen wird, zusammen mit Angaben über Schweregrad der Verwundungen und Ort der Hospitalisierung. Angehörige können über dieses Register nach vermissten Familienmitgliedern suchen, ohne von Spital zu Spital pilgern zu müssen.

Auch an die Medienvertreter wird gedacht – so lästig deren Präsenz im Katastrophenfall auch sein mag, «aber es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit erfährt, was vorgeht», findet Prof. Helperin. Deshalb wird «eine möglichst souverän auftretende Fachperson damit beauftragt, jede Viertelstunde ein Medienbriefing durchzuführen.»

Keine übergrosse Belastung

Die 36 Terroranschläge haben laut Prof. Helperin das israelische Rettungswesen wegen der dramatischen Umstände zwar belastet, aber nicht an den Rand der Kapazität gebracht. Auch finanziell sei die Versorgung der Terroropfer angesichts der 900 000 «normalen» Notfallpatienten verkraftbar. Fünf Jahre Intifadah hätten die Effizienz und den Korpsgeist der Notfalldienste markant verbessert. Und Israels Bevölkerung lasse sich wegen der Attentate ebenfalls nicht unterkriegen. «Es ist ja nicht so, dass bei uns ständig bloss Bomben hoch gehen. Israel ist trotz allem immer noch ein wunderschönes Land», wirbt Prof. Helperin für seine Heimat.

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