Chemiker haben den Nachweis erbracht, dass die Polynesier tatsächlich ausgezeichnete Seefahrer waren
Ohne Kompass und Sextant haben die frühen Polynesier in ihren einfachen Booten von Südostasien her den Pazifikraum erkundet und besiedelt. Chemische und radiologische Untersuchungen an Steinwerkzeugen erlauben jetzt erstmals, die Reiserouten genau zu rekonstruieren. Die ersten Europäer, die Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Fuss auf polynesische Inseln setzten, staunten wohl nicht schlecht: Was ihnen wie das verlorene Paradies vorkam, war bereits wieder besetzt. Doch woher die «primitiven» Menschen stammen mochten, die sich auf den 1000 Eilanden im rund 50 Millionen Quadratkilometer messenden Dreieck Hawaii-Neuseeland bis zur Osterinsel vor Chile angesiedelt hatten, blieb lange Stoff für Spekulationen. Stand man Überresten der Bevölkerung eines riesigen versunkenen Erdteils «Ozeanien» gegenüber, die auf ehemaligen Berggipfeln die Sintflut überlebt hatten? Hatte der Schöpfer den Menschen im pazifischen Ozean ganz einfach ein zweites Mal erschaffen? Oder waren die ersten Polynesier von Wind und Wellen von irgendwo her an die Strände der paradiesischen Inseln gespült worden?
Nichts von alledem, hat bereits der englische Seefahrer Captain James Cook postuliert. Nachdem er Bootbautechnik und Navigationsgeschick der Eingeborenen sorgfältig studiert hatte, kam der berühmte Entdecker zum Schluss, dass die Polynesier in ihren mit Kokosnussfasern zusammengeschnürten Ausleger-Einbäumen und Zweirumpfbooten sehr wohl das Zeug dazu hatten, ausgedehnte Seereisen zu untenehmen. Demnach wäre die polynesische Inselwelt nicht zufällig durch vom Winde verwehte Schiffbrüchige besiedelt, sondern von den Ur-Besiedlern von Südostasien her gezielt erkundet und in Besitz genommen worden. All dies ohne Kompass und Sextant (geschweige denn GPS), sondern bloss mittels peinlich genauer Beobachtung des Sternenhimmels, der Wellenmuster auf hoher See und des Vogelflugs. Cook und seine Begleiter konnten ihre Theorie von den reiselustigen und -fähigen Polynesiern sogar mittels Sprachvergleichen in den verschiedenen Inselgruppen untermauern.
Doch die Frage nach den ursprünglichen Wurzeln der Polynesier blieb weiterhin offen und umso schwieriger zu beantworten, als die frühen Inselmenschen ja keine schriftlichen Dokumente hinterliessen und ihr Wissen ausschliesslich über Erzählungen und Gesänge zu überliefern pflegten, Quellen, die im Laufe der «Zivilisierung» durch westliche Eroberer gründlich zugeschüttet wurden. Forscher waren und sind somit weitgehend auf die Analyse von Funden angewiesen und auf eigene Experimente. So war etwa der legendäre Völkerkundler Thor Heyerdahl der Ansicht, der pazifische Raum sei von der Westküste Südamerikas her besiedelt worden und segelte als Beweis für diese Theorie 1947 mit seinem Balsaholz -Floss «Kon-Tiki» von Peru bis zum Tuamotu-Archipel. Eine andere Experimentier-Fahrt, um die Seemannskunst der Polynesier unter Beweis zustellen, wurde 1976 gewagt. Damals bewältigte das den polynesischen Originalen nachgebaute Zweirumpfboot Hokule’a («Stern der Fröhlichkeit») die 4000 Kilometer messende Strecke von Hawaii bis Tahiti hin und zurück gänzlich ohne Hilfe von Seekarten und Navigationsinstrumenten.
Dass während der 4000 Jahre dauernden Besiedlung Polynesiens auch tatsächlich stattfand, was sich heute als machbar erweist, können jetzt die Chemiker zweifelsfrei beweisen. Die Klingen von Steinäxten, die auf vielen Inseln im Pazifik zu finden sind, haben Archäologen schon immer fasziniert. Die wegen der Befestigung des Stiels eher an unsere heutigen Hacken erinnernden Werkzeuge wurden in der ganzen Inselwelt vor allem auch zum Aushöhlen von Einbäumen gebraucht. Auffallend ist aber, dass solche aus Vulkangestein gefertigte Klingen auch auf den Korallenatollen der Tuamotu-Gruppe anzutreffen sind, wo es eigentlich bloss Kalkstein gibt. Damit war klar, dass die Werkzeuge oder zumindest das Material hierfür importiert worden war. Aber woher?
Die beiden Australier Kenneth D. Collerson und Marshall I. Weisler, der eine vom Fach her Geochemiker, der andere Archäologe, haben 19 dieser Basaltklingen unter die Lupe genommen und deren Zusammensetzung an Spurenelementen und Radioisotopen genau analysiert. So wurde von jeder Axtklinge ein chemisch-pysikalischer Fingerabdruck erhalten, der jetzt verglichen werden kann mit dem chemischen Profil von Basaltablagerungen in der näheren und weiteren Umgebung der Tuamotus. Verblüffend, was die beiden Forscher in der heutigen Ausgabe von «Science» über die Resultate ihrer Arbeiten berichten: Der Ursprung jeder einzelnen Klinge konnte bestimmt werden, der Basalt stammte aus Vorkommen von den Marquesas-, Gesellschafts- oder Austral/Tubai-Inseln, jeweils mehrere hundert Kilometer von den Tuamotus entfernt. Ein Fund allerdings sprengte jeden Rahmen, er war seinerzeit eindeutig aus dem 4000 Kilometer im Norden liegenden Hawaii auf dem Seeweg herantransportiert worden, wahrscheinlich auf einer antiken Version der Hokule’a.
Collersons und Weislers Analyseresultate sind somit unwiderlegbarer Beweis für die frühe polynesische Seemannskunst, die alles in den Schatten stellt, was heutigen Meeres-Abenteurern und Weltumsegler abverlangt wird. Die Polynesier haben wohl den ganzen Pazifik bereist und so erwiesenermassen auch als erste das Huhn nach Chile und damit nach Amerika gebracht. Falls man nur richtig sucht, lassen sich jetzt dort vielleicht auch Steinäxte aus Hawaii finden …